Lernen für die Extremsituation: Wie kann die Polizei Todesmitteilungen verantwortungsvoll übermitteln?
„Unnatural death is the worst possible message to be delivered.“ Mit diesen Worten haben Sie die Situation beschrieben, in der Polizeibeamte die Nachricht des Todes eines nahen Angehörigen überbringen müssen.
Man muss wohl nicht erklären, warum das aus Polizeisicht kein angenehmer Job ist. Weniger im allgemeinen Bewusstsein ist aber, was es für die Angehörigen bedeutet, wenn die Polizei hier nicht routiniert und verantwortungsvoll agiert. Die schlimme Verlusterfahrung kann zwar niemandem erspart werden, aber die Art und Weise der Vermittlung kann im positiven Sinne helfen, sie zu ertragen, oder sie im negativen Fall immens verstärken.
Was heißt, verantwortungsvoll mit so einer Situation umzugehen?
Die Polizei, die in die Todesbenachrichtigung und ein Todesermittlungsverfahren involviert ist, hat hinsichtlich der Interaktion mit Angehörigen zwei zentrale Aufgaben. Die erste betrifft neben der Ermittlungsarbeit selbst den Opferschutz. Angehörige von plötzlich Verstorbenen, ob aufgrund von Suizid, Mord oder eines Unfalls, geraten in eine extreme Krisensituation und brauchen selbst Hilfe.
In so einer Situation sollte sich die Polizei klar darüber sein, wer in so einer gefährdeten Situation stehen könnte: Wer also ist Angehöriger? Das ist gar nicht so evident. Bisher ist es zumindest in Baden-Württemberg so geregelt, dass die Polizei die Nachricht nur einmal überbringt. Das heißt, einmal wird ‚in die Familie hinein’ benachrichtigt. Dabei bleiben dann nicht verheiratete, geschiedene und andere nicht offizielle Angehörige unberücksichtigt.
Umso wichtiger ist, diesen erweiterten Kreis von Opfern im Auge zu haben. Nach der Opferschutzrichtlinie der EU von 2012 gehören auch die Angehörigen von Opfern schwerer Straftaten dazu. Sobald nämlich der Staat ins Spiel kommt, sobald die Staatsanwaltschaft die Leiche obduziert und in Gewahrsam nimmt, ist es keine reine Familienangelegenheit mehr. Der gesamte Angehörigenkreis erweitert sich in einen speziellen Kreis von Opfern, die man in die polizeiliche Verantwortung miteinbeziehen sollte. Und das ist bisher einfach noch nicht der Fall.
Und die zweite Aufgabe?
Die zweite Aufgabe, die eine verantwortungsvolle Nachrichtenvermittlung mit einschließt, ist die Gefahrenabwehr. Die Polizei ist dafür verantwortlich, Gefahren für die betroffenen Angehörigen und auch für andere fernzuhalten. Sie kennt den Impuls, den jeder Angehörige hat, sofort zum Unglücksort zu eilen, ohne darüber nachzudenken, wie die Verkehrslage ist, ob der Ort gefährlich ist – etwa eine Bahntrasse oder die Autobahn.
Schockreaktionen können auch in Aggression ausarten, so dass Angehörige bei der Benachrichtigung zu einem herumliegenden Messer greifen und entweder sich oder den Überbringer der Todesnachricht angreifen, weil sie die Nachricht abwehren oder sich gegen Demütigungen oder Ohnmacht zur Wehr setzen wollen. Ein Polizist sollte sehr viele Gefahrenquellen im Auge behalten. Ein Worst-Case-Szenario in diesem Zusammenhang ist der Angehörige der Absturzopfer von Überlingen, der den Fluglotsen getötet hat.
Solche konkreten Polizeiaufgaben haben also nicht nur mit emotionaler Kompetenz zu tun – also, dass die Polizei empathisch sein, möglichst viel Zeit mitbringen und gut zuhören können sollte und so weiter. Solche Tugenden und Fähigkeiten helfen in dieser Situation natürlich, aber ohne die nötige Zeit für Angehörigen-Interaktion, die in eine Organisationsstruktur eingebunden wird, hilft einem alle psychologische Ausbildung nicht weiter.
Endet mit dem Verlassen der Angehörigen die Aufgabe der Polizei?
Nachdem die Angehörigen benachrichtigt wurden, fangen deren Fragen erst an. Wie geht es jetzt weiter? Natürlich kann die Polizei nicht die Verantwortung für alle möglichen Bereiche übernehmen, doch hat sie hier eine Türöffner-Funktion. Aufgrund ihrer besonderen Rolle mit weitreichenden Befugnissen kann sie dem Staatsanwalt beispielsweise sagen: „Familie Müller möchte gerne ihren Sohn sehen.“ Oder sie kann der Gerichtsmedizin unter Wahrung der rechtlichen Bedingungen mitteilen, selbst wenn ein Ermittlungsverfahren läuft: „Die Mutter darf hier rein!“
Niemand anderes als die Polizei, also auch kein Seelsorger, darf dies und hat die damit verbundene Verantwortung. Und das gilt auch bei der Gefahrenabwehr, dass beispielsweise ein Seelsorger nicht einem schockierten Vater sagen kann, dass er jetzt gefälligst nicht in das Auto steigen soll. Die Polizei darf ihn daran hindern – und, wenn nötig, Freiheitsrechte einschränken.
Wie werden Polizisten auf diese komplexe Aufgabe vorbereitet?
Es gibt nicht die Qualifikation oder das Diplom „Todesnachrichtenübermittler“. In der Regel sind in den Polizeihochschulen nur drei Stunden Theorie und drei Stunden Praxis während der gesamten Hochschulausbildung dem Thema Tod gewidmet. Die drei Stunden Praxis enthalten normalerweise ein Training in Kommunikation. Es kann im szenischen Spiel umgesetzt werden, man spielt einfach diese Situation durch, entweder mit Schauspielern oder erfahrenen Seelsorgern, und wird dabei mitunter gefilmt, bekommt Feedback oder übt einfach mal, welche Worte man wählen, auf welche Reaktionen man treffen kann.
Darüber hinaus findet Ethikunterricht statt. Wir waren in der Polizeihochschule in Duisburg in einem Seminar im zweiten Ausbildungsjahr, das gerade das Thema ‚Sterben lernen’ behandelte und sich mit dem Thema ‚Tod und Polizei’ auseinandersetzte: in welch lebensgefährliche Situationen können junge Polizisten geraten, in welche Todesnähe kommen? Welche Ängste können sie überfallen, bei jeder Demonstration, bei jedem gefährlichen Einsatz? In diesem Rahmen behandelten zwei bis drei Sitzungen das Thema ‚Wie gehe ich mit Angehörigen um?’.
Aber der Schwerpunkt der Ausbildung liegt nach wie vor darauf, wie die Polizei sich selbst psychologisch vorbereiten und Selbstfürsorge betreiben kann, um mit der Angst um das eigene Leben und mit dem Tod anderer umgehen zu können und diese Situationen gut in ihren Arbeitsalltag integrieren zu können. Kurz, die Frage der Psychohygiene der Polizei, die Polizeiseele steht im Fokus. Dafür sind auch die Polizeiseelsorger da, die für die Sorgen und Nöte im Umfeld von Stress und sekundärer Traumatisierung als Ansprechpartner fungieren. Das, wie wir aus Gesprächen mit Lehrenden und Schülern aus Polizeihochschulen wissen, ist die Vorbereitung, die es dort gibt, während alles andere dann in der Praxis im Dienst erlernt wird.
Welche Folgen hat das unprofessionelle Überbringen der Todesnachricht für die Angehörigen?
Wenn die Angehörigen mit der Nachricht alleingelassen werden und keine Ansprechpartner bei den Ermittlern oder anderen Einsatzstellen mit Informationen bekommen, werden sie sich noch hilfloser fühlen als sie ohnehin schon sind. Folgende Fragen tauchen bei allen Angehörigen auf: Wo ist der Tote? Wann kann ich zu ihm gehen? Wie ist das Unglück passiert? War mein Angehöriger alleine oder war jemand bei ihm? Hat er noch leiden müssen? Hat er noch etwas gesagt? Nur diejenigen, die vor Ort waren und den Unfall aufgenommen haben, können mit verlässlichen Informationen darüber aufwarten. Und natürlich die Zeugen, die zufällig vor Ort waren.
Auch Ersthelfer/innen sind von Situationen mit Todesopfern schockiert.
Tatsächlich hilft es allen, wenn sie aus diesem einzigen Fragment, das sie von der Geschichte miterlebt haben, am Ende eine kohärente Geschichte erzählen können. Die heilsame Wirkung, die Erzählungen für die Verarbeitung von schrecklichen Ereignissen haben, ist bekannt: dass man Ereignisse nur dann verarbeiten kann, wenn sie nicht in einem leeren Raum stehen. Man sieht eine Person in einer Blutlache liegen und fährt daran vorbei, bekommt das Bild aber nicht aus dem Kopf. Erfährt man später, dass die Person überlebt hat, wird daraus eine ganz andere Geschichte.
Aus Gesprächen mit Angehörigen und mit Einsatzhelfern wissen wir, dass jeder dieses Bedürfnis nach Informationen hat. Und dass alle froh wären, wenn sie die Gelegenheit hätten, miteinander ins Gespräch zu kommen, sich zusammenzusetzen und die Puzzlestücke, die jeder einzelne hat, auf den Tisch zu legen und so gut es geht zusammenzufügen. Es geht nicht nur darum, wie jeder Einzelne mit diesem psychischen Schock umgeht, sondern auch, wie eine Gruppe mit der Tatsache umgeht, dass hier etwas Schreckliches passiert ist. Das ist auch eine soziale Form der Verarbeitung.
Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Transfer-Projekt?
Das Ziel, die Polizisten für bestimmte Aspekte der Nachrichtenvermittlung zu sensibilisieren, habe ich ja schon ausgeführt: dass die Angehörigen informationsbedürftig sind und dass der Polizei die Entscheidung darüber zukommt, welche Informationen die Angehörigen bekommen dürfen und welche keinesfalls – beispielsweise bei noch laufenden Ermittlungen.
Ein weiteres Ziel dieses Lehrgangs ist, durch Weiterbildungsmaßnahmen auch die Vorgesetzten zu erreichen, möglichst auch noch Entscheider auf höheren Ebenen bis hin zum Innenministerium, die an den Strukturen etwas ändern können. Denn die Sensibilisierung junger Absolventen der Polizeischule nützt nur wenig, wenn sie in den Polizeidienststellen gesagt bekommen: „So haben wir das bisher nicht gemacht. Dafür haben wir gar keine Zeit.“ Wir möchten die Vorgesetzten dafür gewinnen, dass die ganze Aufbauorganisation sichergestellt wird, sodass der Opferschutz und die Gefahrenabwehr nach unnatürlichen Todesfällen gewährleistet werden kann.
Wie ist die Schulung didaktisch, medial und methodisch aufgebaut?
Wir konzipieren ein Blended-Learning, ein Kursformat, das Präsenz-Lernen wie im klassischen Schulunterricht mit E-Learning-Anteilen verzahnt. In Absprache mit den Polizeihochschulen wird im Präsenzunterricht sinnvollerweise das szenische Spiel und das Rollenspiel für den Perspektivenwechsel stattfinden. Um die Benachrichtigungssituation nachzustellen, spielen die Polizeischüler mal Angehörige, mal sich selbst oder einen Seelsorger. So können sie sich gegenseitig Feedback geben. Auch die Begegnung mit Angehörigen, die in unserem Lehrgang eine wichtige Bedeutung bekommen soll, wird im Präsenzunterricht geschehen. Dies soll den Schülern eine persönliche Erfahrung übermitteln, eine Art von affektivem Lernen, das kognitives Lernen ergänzt.
Dank E-Learning wiederum kann man ein großes inhaltliches Spektrum unterbringen, das sich die angehenden Polizisten jenseits des Präsenzunterrichts erarbeiten können. Die mediale Bandbreite reicht von Video über Audio bis hin zu Textmaterialien. Verschiedene pädagogische Felder können bespielt werden: Wir werden beispielsweise erfahrene Polizisten interviewen, die auf Video von ihren Einsätzen erzählen. In Fallbeispielen zeigen wir, was im Idealfall passiert und was passieren kann, wenn sie etwas unterlassen, sodass Fehler offenkundig werden.
Andere Dinge müssen kognitiv gelernt werden, beispielsweise die rechtlichen Dimensionen von Todesermittlungsverfahren: Was muss ein Polizist im Zusammenhang unnatürlicher Todesfälle juristisch überblicken? Was darf er, was muss er, was darf er auf keinen Fall? Wer ist wofür zuständig? Dieses Wissen soll Rollenklarheit herstellen. Wenn hier Unklarheiten bestehen – und das ist für die Polizeischüler der größte Unsicherheitsfaktor – wird in der Regel möglichst wenig gemacht von dem, was man eigentlich könnte.
Der Lehrgang soll aufzeigen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen bestehen, um die Aufgabe im Sinne der Menschlichkeit gut zu bewältigen. Kaum ein Polizist weiß beispielsweise, dass Angehörige Rechtsmittel in Anspruch nehmen können, wenn es um die Sicherstellung der Leiche geht. Dabei müssten sie von der Polizei aufgeklärt werden, dass sie Rechtsmittel gegen diesen Beschluss einlegen dürfen.
Diese rein strafgesetzlichen Wissensanteile sollen insbesondere vermitteln, dass Paragraph 1 des Grundgesetzes, die Würde des Menschen, geachtet wird. Also, dass der Mensch im Mittelpunkt steht: Zum einen, dass Polizisten bestmöglich auf die emotional fordernde Aufgabe vorbereitet werden und wissen, dass sie auch in dieser Situation ihrem polizeilichen Auftrag gut und verantwortungsbewusst nachkommen und so weitere Schäden vermeiden können.
Zum anderen, dass die Angehörigen in dieser extremen Krisensituation nicht alleingelassen oder bevormundet werden, sondern nach wie vor als Bürger und als Menschen behandelt und ernst genommen werden. Andernfalls können den Betroffenen nicht nur psychische Schäden, ein so genanntes ‚Behördentrauma’, entstehen und sie werden wachsendes Misstrauen auch in andere Staatsorgane haben. Auch um die demokratische Ordnung zu stärken ist es daher wichtig, in dieser Situation das Vertrauen von Bürgern in Staatsorgane nicht zu enttäuschen.
Wie wird die weitere Qualitätssicherung aussehen?
Wir produzieren den Lehrgang zusammen mit unseren Kooperationspartnern. Die Vorstellung davon, wie unser Lehrgang aussehen soll, entstand immer in Rücksprache mit der Polizei. Und immer hat auch mindestens ein Polizist darüber geschaut, nämlich der im „Klever Modell“ erfahrene Johannes Meurs.
Mit der Klever Polizeibehörde wurde vor achtzehn Jahren eine Untersuchung unter Angehörigen von Opfern schwerer Verkehrsunfälle durchgeführt. Mehr oder weniger unbeabsichtigt sind die Befrager auf massive Reaktionen der Angehörigen gestoßen, die sich von der Polizei im Stich gelassen gefühlt hatten. Daraufhin wurde das „Klever Modell“ entwickelt und umgesetzt, auf dessen Einsichten und Polizeiwissen ein großer Teil von unserem Polizeilehrgang beruht.
Johannes Meurs hat das „Klever Modell“ in seinem Bereich in der Arbeitsorganisation auch strukturell schon seit Jahren umgesetzt: der Einsatzabschnitt Opferschutz steht ständig bereit und das ganze Team ist in den Abläufen geschult. Wir beziehen einschlägige internationale Literatur mit ein und begleiten die Konzeption des Lehrmoduls empirisch durch Interviews mit Polizeibeamten, um herauszufinden, welche Themenbereiche vielleicht noch unberücksichtigt sind.
Wie soll der Blended-Learning-Kurs verbreitet werden?
Es geht nicht um ein Instrument, das wir im Sinne eines ökonomischen Profits vermarkten wollen, zumal der gesellschaftliche Nutzen eindeutig im Vordergrund steht. Entsprechend habe ich es beim ERC auch beantragt. Bei dem Kurs handelt es sich um ein Angebot, das wir der polizeilichen Aus- und Weiterbildung deutschlandweit zur Verfügung stellen möchten. Aufgrund der unterschiedlichen Länderpolizeirechte kann nicht exakt derselbe Lehrgang überall eingesetzt werden, sodass Bundesländer, die den Blended-Learning-Kurs anbieten wollen, Einzelheiten an ihre jeweiligen Bedingungen anpassen müssen. In einem weiteren Schritt soll der Lehrgang europaweit verbreitet werden. Aber das ist noch Zukunftsmusik. Jetzt müssen wir erst mit unserem Prototyp fertig werden.
Prof. Dr. Kirsten Mahlke lehrt Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden an der Universität Konstanz und ist maßgeblich beteiligte Wissenschatlerin des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“. In Ihrem Forschungsprojekt „Narratives of Terror and Disappearance“ (2010–2015, gefördert als ERC Starting Independent Research Grant) erforschte sie Erzählformen des Terrors der Diktatur in Argentinien (1976–1983).
Projektbeteiligte und Kooperationspartner
Universität Konstanz:
Prof. Dr. Kirsten Mahlke (Literaturwissenschaft)
Melanie Brand (Doktorandin, Ethnologie)
Sabine Schorpp (Studentin, Psychologie)
Opferschutz der Polizeibehörde in Kleve
Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung und Polizei in Duisburg, insb. Fachbereich Ethik und vierzehn Polizeistudierende
Landespolizeibehörde Stuttgart, Abt. Technik, Logistik und Service (u.a. technische Produktion, Digitalisierung)
Polizeihochschule Baden-Württemberg in Villingen
Förderung
Das Transferprojekt „Death Notification with Responsibility“ wird durch den Europäischen Forschungsrat ERC als Proof of Concept (PoC) seit Juni 2017 bis November 2018 gefördert.
Die Gesamtsumme beläuft sich auf 147.000 Euro für technische Produktion, eine Mitarbeiterstelle, Reisemittel, Workshops und Informationsveranstaltungen mit der Polizei.