C Kulturelle Modellierung von Hierarchie und Gewalt
Dieser Ansatz sollte erweitert und analytisch zugespitzt werden. Stand bisher das Wechselspiel zwischen strukturellen Machtasymmetrien und den (kontroversen) Symbolisierungen von Herrschaft auf beiden (oder mehreren) Seiten der transkulturellen Hierarchie im Vordergrund, so wurde das begriffliche Tableau in der zweiten Forschungsphase um einen dritten Pol, das Phänomen der Gewalt, ergänzt. Dies erlaubte es, Hierarchien noch stärker von ihrer prekären Seite her zu beleuchten und die Ambivalenz von Hierarchiebeziehungen – als Ordnungsstiftung einerseits, als Gewaltrelation andererseits – herauszuarbeiten.
Ob dabei die Ausübung von Herrschaft als gewaltsam erfahren wird, richtet sich nicht nach objektiv bestimmbaren soziostrukturellen Messdaten, sondern ist auch eine Frage der jeweiligen Perspektive und strategischen Thematisierung. Revolutionäre Situationen zum Beispiel werden dadurch semantisch vorbereitet, dass bestimmte Gruppen die jeweilige Herrschaftsform als Gewaltzustand denunzieren – dass der Regent das Stigma des Tyrannen erhält und sich folglich außerhalb von Gesetz und Sitte bewegt, was wiederum den Einsatz von Gegengewalt jenseits vorhandener legaler Maßregeln rechtfertigt.
Wo es nicht gelingt, Herrschaftsausübung und damit, im Grenzfall, Anwendung von Gewalt mit einer kollektiven Grundlegitimation zu versehen, die der Hermeneutik des Verdachts gegenüber den hierarchisch Höhergestellten wirksam begegnet, können sich institutionelle Ordnungen nicht stabilisieren und nicht von den Akteuren, die Ämter und Positionen bekleiden, verselbständigen. Hier stellt sich das große Problem des Vertrauens in Macht.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass insbesondere in transkulturellen Szenarien eine permanente Auseinandersetzung darüber mitläuft, was überhaupt als ‚Gewalt‘ und was als ‚Ordnung‘ (bzw. als wiederhergestellte Gerechtigkeit) zu qualifizieren ist. Oft sind die politischen Verhältnisse verworren, und es ist unter den Akteuren strittig, ob etwa eine Gewaltmaßnahme staatlich bzw. völkerrechtlich legitimiert oder etwa nur die Aktion einer Kriegspartei ist, die auf eigene Kosten arbeitet. Strukturelle Machtasymmetrien gehen zumeist mit einer asymmetrischen Definitionshoheit einher, die indessen – gegenhierarchisch bzw. gegenkulturell – von den schwächeren Akteuren usurpiert und umfunktioniert werden kann.
In seinem neuen Zuschnitt erlaubte es das Forschungsfeld C, die in der neueren Gewaltforschung seit den 1990er Jahren vollzogene Wende zum situativ-performativen Gepräge von Gewalt mitzuvollziehen, diesen Schwenk aber mit einem relationistischen Vorbehalt zu verbinden. Die Formenvielfalt von Gewalt bleibt selbst in ihren extremen Ausprägungen auf kulturelle Rahmungen bezogen. Während die Analyse von Gewalthandlungen den situativen Kontext herausstellen muss, sind Hierarchien strukturelle Gegebenheiten, die sich nur in einem vergleichsweise langsamen Tempo verändern. Der Aspekt der Hierarchie wird angesichts derzeit dominierender ‚horizontaler’ Kategorien wie Netzwerk, Komplexität, Diversität oder governance wieder in Erinnerung gebracht, soll aber seinerseits, entsprechend der Heuristik des Clusters, stärker prozessualisiert werden.
Forschungsfragen
Das neu akzentuierte Konzept von Forschungsfeld C bot demnach Gelegenheit, zum Beispiel folgende Themen und Forschungsfragen zu untersuchen:
- Wie ist in einem gegebenen Szenario das Verhältnis zwischen machtpolitischer und kultureller Dominanz zu bestimmen? Lassen sich persistente Typologien entwickeln, je nachdem ob politische Vormacht mit starkem kulturellem Einfluss einhergeht (die USA nach 1945) oder ob die Hegemonialmacht ihrerseits ein kulturelles ‚Importland‘ ist (das antike Rom im Verhältnis zu Griechenland)? Ist kulturelle Überlegenheit langfristig eine Bedingung für machtpolitische Suprematie?
- Wie gestaltet sich politische Opposition gegen eine politische Hegemonialmacht unter den Bedingungen von dominantem kulturellem Fremdeinfluss? Wie werden hegemoniale Semantiken usurpiert und umcodiert? Mit welchen Mitteln schalten sich Unterlegene in die Narrative der Machthaber ein?
- Wie verhalten sich hegemoniale Selbstwahrnehmung (z. B. imperiale Mission, Imperativ der Verrechtlichung, Weltpolizei, Verfechtung universalistischer Werte) und die Fremdwahrnehmung des Hegemons durch die Subalternen (z. B. Inkonsequenz, Partikularismus in eigener Sache, Doppelmoral) zueinander? Wie können beide Wahrnehmungen miteinander koexistieren?
- Wie gelingt es institutionellen Hierarchien, strukturelle Gewalt zu invisibilisieren? Welche Strategien der Thematisierung und Skandalisierung sind erfolgreich, um umgekehrt Hierarchien als gewaltförmig erscheinen zu lassen und entsprechend zu delegimitieren?
- Wo werden die Grenzen zwischen legitimer und illegitimer Gewalt gezogen? Unter welchen Bedingungen finden Veränderungen der Gewaltsensibilität statt, die zu einer geringeren oder größeren kulturellen Akzeptanz von Gewalthandeln führen?
- Wann und wie entstehen durch Gewalt selbst konstituierte Gemeinschaften, welche Organisationsmuster bilden sie aus und wie stabil sind sie? Wie gehen kulturelle Semantiken mit dieser fundierenden Funktion von Gewalt um?
- Unter welchen sozialen Bedingungen kommt es zu entgrenzter, autotelischer Gewalt? Welche Vorgeschichte haben ‚Gewalteruptionen‘?
- Wie ist der Umgang mit virtueller und fiktionaler Gewaltfaszination geregelt, welche Verfahren der Neutralisierung, Duldung, Skandalisierung, subkultureller Marginalisierung und des verabredeten Nichtwissens stehen dafür bereit?
- Wie ist mit den Paradoxien einer gewaltsamen Gewaltbeendigung umzugehen?
- Welche Deeskalationsmechanismen und welche Interventionsformen haben sich als erfolgreich erwiesen, um das Gewaltniveau in Konfliktregionen dauerhaft abzusenken?