Integration
Von Andreas Langenohl
‚Integration‘ ist ein Beispiel für einen Begriff, der in unterschiedlichsten Registern operiert, von der Sozial- und Kulturwissenschaft über die Werkstoffkunde bis hin zu politischen Diskursen der Gegenwart. Er bewegt sich in einem konzeptuellen Spannungsfeld.
Zusammenhalt und Unterschiedlichkeit
Erstens bezeichnet er den Zusammenhalt einer Einheit, der nicht zufällig, etwa durch bloße Aneinanderreihung von Elementen, erzielt wird, sondern in dem die Bestandteile der Einheit ineinandergreifen und so den Zusammenhalt auf eine relativ dauerhafte Grundlage stellen.
Zweitens benennt er die Unterschiedlichkeit der Komponenten, aus denen eine solche integrierte Einheit besteht. Auf Gesellschaft oder Kultur angewandt ist damit keine amorphe Masse gleichartiger Elemente bezeichnet, sondern im Gegenteil eine Verbindung heterogener Elemente, die auf komplexe Weise – etwa durch Komplementarität, Funktionalität oder Nichtsubstituierbarkeit – aufeinander bezogen sind. ‚Integration‘ steht somit konzeptuell zwischen Heterogenität und Homogenität.
Ein wissenschaftlich vielfältig verwendeter Begriff
‚Integration‘ tritt sowohl in sozial- und kulturwissenschaftlichen Abhandlungen wie auch in politischen und gesellschaftlichen Diskursen in Erscheinung, und Letztere beziehen sich oftmals auf Erstere. Man mag hier an die seit langem anhaltende Debatte über die ‚Integration‘ von Migrantinnen und Migranten in die deutsche Mehrheitsgesellschaft denken, die zurzeit anhand von Flüchtenden einen neuen Höhepunkt erlebt und in ihrer Geschichte oftmals auf sozial- und kulturwissenschaftliche Studien zurückgriff. Hierin lässt sich ein weiteres Merkmal des Integrationsbegriffs erkennen: Er changiert zwischen Deskription und Präskription, zwischen der Analyse kulturell-gesellschaftlicher Konstellationen und zwischen Vorstellungen und Vorschlägen bezüglich dessen, wie diese Konstellationen beschaffen sein sollten.
Einheitlichkeit vs. Uneinheitlichkeit
In diesem Changieren spielt das Spannungsverhältnis zwischen Homogenität und Heterogenität, das dem Integrationskonzept zueigen ist, eine entscheidende Rolle. Die Sozial- und Kulturwissenschaften wie auch gesellschaftlich-politische Diskurse kennen diese Auseinandersetzung seit langem. In der Soziologie etwa macht sich seit dem 19. Jahrhundert eine wichtige Debatte an der Frage fest, auf welche Weise moderne Gesellschaften, die in sehr verschieden funktionierende Institutionen gegliedert sind, auf normativer Ebene integriert werden können.
In den Kulturwissenschaften – vor allem in der Ethnologie und Anthropologie, aber auch der Semiotik und der vergleichenden Literaturwissenschaft – herrscht eine ähnliche Debattentradition mit Blick auf die Frage, welchen Grad an interner Heterogenität Kulturen zulassen können, ohne zu desintegrieren, oder ob Kulturen nicht sogar auf die Emergenz heterogener Elemente angewiesen sind, um sich durch Abgrenzung als homogen konstituieren zu können.
Der Begriff der Integration repräsentiert somit ein fächerübergreifendes ‚Idiom der Gesellschaftsanalyse‘, denn er erlaubt, eine Frageperspektive zu generieren, die ihrerseits, und noch vor jeder empirischen Beobachtung, ganze Wissenschaftszweige begründet und legitimiert.
Migration als Paradebeispiel
Die Debatte über den mehrheitsgesellschaftlichen Umgang mit Migration kann dabei als ein Paradebeispiel für eine Kontinuität zwischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Argumentationen und der Artikulation gesellschaftspolitischer Leitvorstellungen angesehen werden. Seit den 1920er Jahren wurden in Soziologie und Anthropologie Konzepte vorgebracht, die die kulturellen Beziehungen zwischen Migrantinnen und Migranten zur Mehrheitsgesellschaft verstehbar machen sollten.
Dominant war lange Zeit das so genannte Assimilationsparadigma, demzufolge Einwanderer ihre mitgebrachten kulturellen Leitvorstellungen ablegen müssten, um vollständigen Zugang zur Zielgesellschaft zu erhalten. Wenngleich dieses Konzept seitdem in den Sozial- und Kulturwissenschaften, und auch in der künstlerischen Produktion, massiver Kritik ausgesetzt war, u.a. weil es einem unrealistischen Container-Modell von Kultur und Gesellschaft Vorschub leistet, behauptet es sich noch immer als scheinbar selbstevidente Schlussfolgerung aus der normativen Forderung, dass Gesellschaften und Kulturen nur ein gewisses Maß an innerer Heterogenität vertragen.
Wie viel innere Homogenität vertragen Gesellschaften und Kulturen?
Abschattiert bleibt dabei die Frage, welches Maß an innerer Homogenität Gesellschaften und Kulturen vertragen. Wenn eine Vorbedingung von Integration die innere Differenziertheit des integrierten Gegenstandes ist, muss sich der wissenschaftliche wie auch der gesellschaftlich-politische Blick auf die Weisen der Verknüpfung, Verkettung und Fusionierung dieser Einheiten richten.
In dieser Hinsicht ist die Werkstoffkunde den Sozial- und Kulturwissenschaftlichen möglicherweise voraus. Letztere hingegen verfügen grundsätzlich über das Potenzial, Integration als einen dynamischen Vorgang zu begreifen, in dem Zusammenhalt niemals final erreicht ist, sondern Transformationsprozessen unterliegt – Regeln, die, denkt man etwa an die Zukunft der Europäischen Union, dringend zu erkunden sind.
Prof. Dr. Andreas Langenohl lehrt Soziologie mit Schwerpunkt Allgemeiner Gesellschaftsvergleich an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er war Kollegiat des Kulturwissenschaftlichen Kollegs Konstanz (April–September 2013) und Leiter der Forschungsgruppe „Idiome der Gesellschaftsanalyse“ am Exzellenzcluster (2007–2010).