Die Schwelle der Geburt

Im Mai 2018 erscheint Ihre neue Monographie „Pränatale Zeiten. Das Ungeborene und die Humanwissenschaften (1800-1950)“. Was fasziniert Sie an dem Thema?
Mich hat fasziniert, wie intensiv sich nicht nur die Lebenswissenschaften, also die Biologie oder genauer gesagt die Embryologie, im 19. Jahrhundert mit dem Ungeborenen befasst haben, sondern auch die Humanwissenschaften. Die Vorstellung des Pränatalen als erster Seite im Buch des Lebens war Gegenstand der Medizin, der Physiologie und der Psychologie: Woher kommt es, dass Kinder mit Krankheiten geboren werden? Wie lebt das Ungeborene im Mutterleib? Hat es gar schon ein psychisches Vermögen? Kann es Erfahrungen machen und sich erinnern? Über die humanwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema ist bisher wenig bekannt.
Aus feministischer Perspektive – und auch aus Mutterperspektive – ist das natürlich ambivalent: Der Schwangerschaft und der schwangeren Frau wurde damit eine große Bedeutung beigemessen. Dies führte etwa in Frankreich früh zu Schutzmaßnahmen für schwangere Arbeiterinnen. An Schwangere wurden dabei gleichzeitig höhere Erwartungen gestellt, das wachsende Leben im Mutterleib optimal zu unterstützten.
Inwiefern behandelt Ihre Publikation Fragen, die auch im 21. Jahrhundert noch zu klären sind?
Meine Monographie beschäftigt sich mit der Geschichte sehr aktueller Fragen und Debatten. Im 20. Jahrhundert ist man in der so genannten „nature-nurture-Debatte“ grundsätzlich von zwei Faktoren ausgegangen, die einen Menschen prägen: die Genetik und das, was man im weitesten Sinn unter Erziehung versteht. Umstritten war, welcher Anteil welchem Faktor zukommt. Seit einigen Jahren wird die pränatale Prägung oder das so genannte fetal programming zunehmend deutlicher als dritter Faktor behandelt. Das ist keine neue Entdeckung, wie ich in meinem Buch zeige, vielmehr ist es eine erneute Konjunktur der Vorstellung, dass die Schwangerschaft eine plastische, prägende Kraft ist; eine Vorstellung übrigens, die auch im 20. Jahrhundert kontinuierlich erforscht worden ist.
Ebenfalls sehr aktuell sind Diskussionen um das, was man den Beginn menschlichen Lebens nennt, wie wir sie aus Debatten über die Abtreibung, die Fortpflanzungsmedizin oder die Forschung mit embryonalen Stammzellen kennen. Diese Debatte kreist um die Frage, ab welchem Entwicklungszeitpunkt dem Embryo oder Fötus welche Rechte zukommen beziehungsweise ab wann wir ihn behandeln wollen wie einen geborenen Menschen. Darin steckt die Frage, was das Ungeborene eigentlich ist. Diese letztlich ontologische Frage stellt sich nicht erst heute. Die Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts haben sie sich auf spezifische Weise gestellt. Sie haben gefragt: Wie lebt das Ungeborene? Was unterscheidet sein Leben vom Geborenen? Und insbesondere haben sie die Frage, was für eine Entität das Ungeborene ist, in die Frage verwandelt, wann im humanen Organismus das Psychische in Funktion tritt: Vor oder nach der Geburt? Anders als Embryologie, die zur selben Zeit zeigte, wie während der ersten Phasen der Schwangerschaft durch Entwicklung ein Organismus entsteht, waren die Humanwissenschaften intensiv mit der Schwelle der Geburt befasst – und damit auch mit der Beziehung von Schwangerer und Ungeborenem, die das vorgeburtliche Leben maßgeblich vom nachgeburtlichen unterscheidet.
An welchen Forschungs- oder Publikationsprojekten arbeiten Sie zurzeit?
Momentan arbeite ich an einem Aufsatz, in welchem ich mich mit den Natur-Kultur-Diskussionen in der Historischen Anthropologie beschäftige, da ich ja auch in der Zeitschrift Historische Anthropologie engagiert bin. Mit dem Aufsatz versuche ich, die Historische Anthropologie an aktuelle Debatten der Sozialanthropologie anzuschließen.
In den kommenden Jahren will ich mich außerdem mit der Geschichte feministischer Konzeptionen von Mutterschaft beschäftigen. Dieses Thema möchte ich vor allem historisch vergleichend bearbeiten, ausgehend von der Beobachtung, dass die Mutterschaft einmal als emanzipativ angesehen wird, ein anderes Mal jedoch als das genaue Gegenteil. Beginnen möchte ich meine Untersuchungen wieder im 19. Jahrhundert, um mir ab diesem Zeitpunkt verschiedene Momente in feministischen Strömungen anschauen zu können.
Wie blicken Sie auf Ihre Zeit als Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz zurück?
Das Kulturwissenschaftliche Kolleg Konstanz war für mich und meine Arbeit perfekt eingerichtet. Ich habe vor allem geschätzt, dass es zwar einen regelmäßigen Austausch gab, durch die wöchentlichen Kolloquien und die Residenzpflicht aller Fellows, dieser aber zeitlich begrenzt war. Damit wurde den Fellows das Vertrauen entgegengebracht, dass man in Eigenverantwortung an seinen Forschungsprojekten arbeiten konnte. Ich für meinen Teil brauchte einfach die Zeit und Ruhe, um mein Buch fertig zu schreiben. Dies habe ich so ähnlich am Institute for Advanced Study in Princeton kennen gelernt. Ich bedauere zwar, dass ich an vielen interessanten Veranstaltungen an der Uni nicht teilnehmen konnte, aber nur so ist mein Buch auch letztendlich fertig geworden. Das Kulturwissenschaftliche Kolleg hat also Strukturen vorgegeben, die es einem ermöglichen, in Austausch treten zu können, zugleich ließ es einem aber die Freiheit, sich isolieren zu können – das war genau das, was ich brauchte.
Die Historikerin Prof. Dr. Caroline Arni (Basel) schrieb im akademischen Wintersemester 2015/16 am Kulturwissenschaftlichen Kolleg ihre Monographie „Pränatale Zeiten. Das Ungeborene und die Humanwissenschaften (1800-1950)“, welche im Mai 2018 erscheinen wird. Seit 2012 ist sie Professorin für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Basel.