Wo beginnt die weite, weite Welt?
Von Claudia Marion Voigtmann
Unzählige Transportkisten fallen zunächst ins Auge. Sie sind schon um die ganze Welt gereist und machen nun Station in Dresden. Im jüngsten Ausstellungsprojekt des Deutschen Hygiene-Museums stehen sie als pars pro toto für ein globales gesellschaftliches Phänomen, das sich hier auf nationaler und lokaler Ebene präsentiert: Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt.
Kisten aus Holz sind im ersten Raum der Ausstellung, der mit „Sehnsüchte und Träume“ überschrieben ist, zu einer Skyline aufgetürmt, auf der architektonische Wahrzeichen von Metropolen aus aller Welt thronen – künstlerisch gestaltet aus Styropor, aus Pappbechern oder aus profanem Verpackungsmaterial. Die Träume von einem neuen Leben anderswo sind, so wird hier vermittelt, so verschieden wie individuell zusammengesetzt. Postkarten, die am Eingang zur Ausstellung angeboten werden, liefern Sachinformationen zur Migrationsgeschichte der „Sehnsuchtsorte“, die durch diese Architekturmodelle repräsentiert werden.
Auf einer Kiste im Vordergrund ist als besonders gelungenes Exemplar die Istanbuler Sultan-Ahmed-Moschee zu sehen. Das Berliner Künstlerbüro raumlabor, das für die gesamte Ausstellungsgestaltung zuständig war, hat das Bauwerk aus deutsch-italienischen Milchtüten und Bechern mit türkischem Joghurt nachgebaut. Anders als in den 1960er Jahren ist die Türkei heute nicht mehr nur Entsenderland von Gastarbeitern, sondern inzwischen selbst zum Ziel- oder Durchgangsland geworden.
„Migration aus der Wir-Perspektive“
Mit solchen Brückenschlägen versucht die Ausstellung die Besucher in ihrer eigenen Erfahrungswelt von Fernweh bis Fremdheitsgefühlen abzuholen. „Migration soll in dieser Ausstellung aus der Wir-Perspektive betrachtet werden“, erklärt Gisela Staupe, die als stellvertretende Direktorin das Ausstellungsprojekt geleitet hat. „Das Deutsche Hygiene-Museum versteht sich als Diskursmuseum, dessen Aufgabe es ist, gesellschaftlich relevante Themen über unsere Ausstellungen zu kommunizieren und zu bewegen.“
Wie wollen wir in einer von Migration geprägten Gesellschaft leben?
Wie komplex und politisch sensibel das Thema „Migration“ ist, wurde Staupe auch bei der Arbeit am ausstellungsbegleitenden Buch bewusst. Die Zusammenarbeit mit fast 60 Autorinnen und Autoren zu zentralen Begriffen der Migration empfand sie als intensiv und sehr bereichernd. Das Buch, das sie gemeinsam mit Özkan Ezli, Wissenschaftler am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, herausgegeben hat, ist bei Konstanz University Press erschienen. Ohne diese Zusammenarbeit, davon ist sie überzeugt, wäre das Buch in dieser Form nicht entstanden:
„Konstanz hat den Begriff der Entdramatisierung in die Diskussion eingebracht, der für die Konzeption des Buches sehr wichtig wurde. Es gibt sehr viele unterschiedliche, manchmal auch polarisierende Positionen zum Thema Migration. Aber die Diskussion auf zum Teil marginale Probleme zu reduzieren, kann auf Dauer nicht konstruktiv sein, wenn es um die Frage geht: Wie wollen wir in einer von Migration geprägten Gesellschaft leben? Migration ist ein Aushandlungsprozess zwischen Menschen, die schon da sind und Menschen, die gekommen sind und noch kommen werden, das ist es, was Buch und Ausstellung vermitteln möchten. Gelungene Migration beweist sich in der Begegnung von Menschen!“
Von der ersten Abteilung „Sehnsüchte und Träume“, in der es um die Frage geht, warum Menschen überhaupt wandern, gelangt der Besucher über die „Grenze“, die gestalterisch den Sicherheitskontrollen auf Flughäfen nachempfunden ist. Glücklich, wer hier grünes Licht erhält; für viele Menschen führt der Weg nach der Grenzüberschreitung aber lediglich in ein Asylverfahren, das in der Ausstellung räumlich als eine Sackgasse umgesetzt ist. Den komplexen und fast unüberschaubaren Weg durch „Das deutsche Asylverfahren“ veranschaulicht das Exponat eines Fadenlabyrinths, das in einem verwirrenden Hin und Her mehr Rück- als Fortschritte verspricht. Eindrucksvoll verkörpert ein Kreuz aus Lampedusa, das der Tischler Franco Tuccio aus dem Holz eines Flüchtlingsboots gebaut hat, das ethische Dilemma des Asylwesens: Wer darf bleiben, wer nicht?
Rassismus und Vorurteile – Erfahrungen
Die zentrale Abteilung der Ausstellung beschäftigt sich mit dem Thema „Zusammen leben“. „Auch das Konfliktpotential in einer migrantischen Gesellschaft muss selbstverständlich benannt und diskutiert werden, aber der öffentliche Diskurs über Migration in Deutschland sollte nicht darauf reduziert werden“, betont Staupe. Daher werden in dieser Abteilung auch zwei zentrale Themen verhandelt: Rassismus und Vorurteile bzw. Stereotypen. Obwohl der prozentuale Anteil von Migranten an der Gesamtbevölkerung weit hinter dem in den westlichen Bundesländern liegt, gibt es in Dresden wie an anderen Orten der neuen Bundesländer starke Ressentiments gegen Ausländer. So kamen 2012 in Dresden zu einer Lesung von Thilo Sarrazin aus „Deutschland schafft sich ab“ über 1500 Zuhörer zusammen.
In Bild und Ton werden die Besucher von zehn Migranten durch die Ausstellung begleitet, die schildern, welche Träume und Sehnsüchte sie nach Dresden geführt haben, die aber auch von ihren Problemen und Hoffnungen in der neuen Gesellschaft berichten. Prof. Dr. Moh’d Amor beispielsweise ist Professor an der TU Bergakademie Freiberg, Ester de Carvalho Silva besucht ein Dresdner Gymnasium, Hang Thanh Phùng koordiniert für die AWO Sonnenstein Projekte wie „Toleranz leben“ und arbeitet als Übersetzerin und Dolmetscherin. Christopher Wingender, Leiter der Pressestelle des Museums, erklärt:
„Die Ausstellung will die Blickperspektive der Besucher verändern, weg von den negativen Konnotationen, hin zu einem Verständnis davon, dass diese Gesellschaft durch Migration längst verändert worden ist.“
Aus wirtschaftlicher Sicht bietet Migration beiden Seiten eine Win-Win-Situation, wie verschiedene Installationen auf dem „Markt“ im Zentrum der Ausstellung zeigen. Diesen Zusammenhang veranschaulichen beispielsweise ein rosa, aus LEGO gebautes Dornröschen-Schloss oder ein plüschiger Goldesel mit türkischem Fez. Einer Schätzung aus dem Jahr 2006 zufolge trägt jeder Ausländer im Schnitt 2000 Euro pro Jahr mehr zu den öffentlichen Haushalten bei, als er von ihnen ‚einnimmt’ – Tendenz steigend. Und doch ist das Zusammenleben kein Kinderspiel, wie der „Copy-Shop der Vorurteile“ und das „Moderne Antiquariat“ mit seinen unterschiedlichen Beispielen und Geschichten zum Alltagsrassismus zeigen.
„Warum ist es zu Hause ist am schönsten?“ Im letzten Ausstellungsraum stehen Fragen an die Besucher im Zentrum. „Was ist Gerechtigkeit?“ oder: „Wo beginnt die weite, weite Welt?“ Nach einem sehr informationsdichten Programm wird hier der Reflexion Raum gegeben, die bis in den Alltag hineinwirkt – bei all denen, die es zu Hause am schönsten finden, die ihr Zuhause für ein schöneres, besseres verlassen, die um ihr schönes Zuhause bangen und deren neues Zuhause erst noch schön werden muss.
Claudia Marion Voigtmann ist Koordinatorin für Öffentlichkeitsarbeit und Wissenstransfer am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“.
Weitere Informationen
Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt
Sonderausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Lingnerplatz 1, 01069 Dresden
8. März–12. Oktober 2014
Pressemitteilung
Publikation
Zur Ausstellung ist ein Lesebuch zu den Wörtern der Migration erschienen:
Özkan Ezli, Gisela Staupe (Hg.): Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt. Mit einem Fotoessay der Agentur Ostkreuz. Konstanz: Konstanz University Press 2014.