Der ortlose Muslim oder das Prekäre als Niemandsland
Ein kulturwissenschaftlicher Kommentar zu Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“
von Özkan Ezli

Das Prekäre ist ein paradoxer gesellschaftlicher Ort: Er steht für einen Zwischen- oder Schwellenzustand, der Zugehörigkeit und Ausschluss impliziert. Ein Ort und Nichtort zugleich. Diesem Grenzbereich widmet sich Thilo Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ und macht die Zukunftsfähigkeit Deutschlands an der Integrierbarkeit oder Nicht-Integrierbarkeit der unproduktiven, von Transferleistungen lebenden Unterschicht fest.
Vom erziehbaren Hartz-IV-Individuum zum gefährlichen Muslim-Kollektiv
Soweit so gut. Jedoch erfährt Sarrazins Beschreibung des Prekariats in Deutschland einen narrativen und methodischen Bruch, der der eigentliche Auslöser der überhitzten Debatte um Integration war: In den ersten sechs von neun Kapiteln des Buchs beschreibt er – mit vielen polemischen Aussagen durchsetzt – relativ ausgewogen einen prekären Raum, in dem Hartz-IV-Empfänger, die richtigen sozioökonomische Reize vorausgesetzt, als motivierbare Individuen agieren können; einen Raum also, der einen Ort und einen Übergang für Integration bietet.
Doch mit dem siebten Kapitel „Zuwanderung und Integration“ bricht Sarrazins Narration und Methode, die sich dann nicht mehr einer möglichen Austarierung zwischen Gesellschaft und schwachem Individuum bedient. An die Stelle des schwachen, prekären und erziehbaren Subjekts, dem bspw. mit einem gesunden Ernährungsplan geholfen werden kann, tritt das bedürfnis- und schwächelose muslimische Kollektiv- und Kultursubjekt, das nicht mehr einfach mit der Unterscheidung fleißig oder faul beschrieben werden kann, sondern integriert in den Produktionsapparat Deutschland als modern und nichtintegriert in die produktive Mehrheitsgesellschaft als gefährlich einzustufen ist.
Trotz der dominierenden Diktion von sozial sehr segregierenden statistischen Auswertungen und biologistischen Interpretationen zu Produktivität und Intelligenz von Menschen der Ober-, Mittel- und insbesondere der Unterschicht, finden wir in den Kapiteln zu Armut und Ungleichheit und zu Arbeit und Politik auch eine individualisierende Sprache gegenüber prekären Existenzen nicht-muslimischer Herkunft. So gibt Sarrazin beispielsweise für den Fall des erziehbaren Subjekts ein Gespräch mit einer Hartz-IV-Empfängerin wieder, eine ausgebildete Maskenbildnerin, die ein Jobangebot bei Lidl an der Kasse ausgeschlagen hatte und der ihr Leben nun langweilig sei. Für Sarrazin ist es ein Skandal, dass „diese gar nicht unintelligente und grundvernünftige Frau in der Blüte ihrer Jugend von staatlicher Unterstützung lebte“ und Chancen ausschlug, „die sich ihr boten, weil niemand ein bisschen Druck ausübte und Schwung in ihr Leben brachte“.
Trotz der harschen Aussagen Sarrazins über das nicht wesentlich verbesserbare Potenzial an Intelligenz des Prekariats und seine Warnung, dass dieses sich nicht über mehr Geburten vermehren darf, da es Deutschland produktiv nichts bringt, betrachtet er letztlich diese Unterschicht auch als eine, die man mit den richtigen ökonomischen Anreizen, indem man beispielsweise die Grundsicherung um 30 Prozent senkt, integrieren kann und muss. Bei Nicht-Integration und Vermehrung dieses Prekariats verdummt Deutschland.
Wenn er dieser Unterschicht im ersten Teil des Buchs mit einer Mischung aus teils biologistisch-kapitalistischer Härte und teils humanistischer Nähe einen Ort gibt und damit auch Übergangs- und Integrationsmöglichkeiten aufzeigt, bindet er diese an das produktive Deutschland und somit an eine mögliche Zukunft. In seinem Zuwanderungskapitel jedoch dominiert der biologistisch-kapitalistische Blick. Und an die Stelle des Individuums und damit der Nähe zur produktiven Mehrheitsgesellschaft tritt nach Sarrazin eine geschlossene gefährliche Kultur, die nicht nach Deutschland und nicht in die Moderne gehört. So ist auch der worst case bei steigender Geburtenzahl hier nicht die Verdummung, sondern die Abschaffung Deutschlands. Den Unterschied zwischen Verdummung und Abschaffung führt Sarrazin mit dem Zuwanderungskapitel ein.
Der ortlose globale Muslim
Der Mensch sei ein territorial orientiertes Wesen; damit leitet Sarrazin das Kapitel über das muslimische Prekariat ein. Danach folgt auf nur vier Seiten eine Kulturgeschichte der Grenzziehungen zwischen Imperien, Nationen und Gruppen, ohne die tragende Grenzziehung der Moderne, zwischen Individuum und Gesellschaft, zu erwähnen, und schließt seinen Exkurs mit der Aussage, dass die Grenzen Europas am Bosporus verlaufen und nicht an den Grenzen von Irak und Iran.
Diese perspektivische Rahmung und Grenzziehung, die Welten voneinander trennt, bestimmt den Argumentationsweg und Umgang Sarrazins mit dem Thema der mittlerweile über 50-jährigen Zuwanderung und Integration nach bzw. in Deutschland. Denn die statistischen Angaben für Deutschland zur Integration in den Arbeitsmarkt, zur Abhängigkeit vom Sozialtransfer, zur Bildungsbeteiligung und zur Fertilitätsrate von Migranten mit muslimischem Hintergrund, denen sich Sarrazin einseitig ohne Austarierung mit anderen statistischen Zahlen bedient, verknüpft er nicht mit Alltags- oder individualisierenden Beschreibungen wie zuvor, sondern mit Zahlen zur Integration von Muslimen in England, Frankreich und Holland. Damit entortet Sarrazin die Probleme der deutsch-türkischen Migranten und hebt sie aus ihrem eigentlichen deutschen sozialen Gefüge und ihrer Geschichte in Deutschland.
An seine Darstellung dieses ortlosen globalen Muslims, der überall gleich zu sein scheint, schließt er die iranische Kulturrevolution von 1978, den Mord an Theo van Gogh von 2004, den Karikaturenstreit von 2005 und die Assimilationsrede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyib Erdoğans von 2008 an und macht den ortlosen Muslim als Kollektivsubjekt ohne mögliches Selbstbewusstsein zu einer bedrohlichen Gefahr. Und so kann sein unscharf geratener Blick, den er am Ende seines Integrationskapitels auf Berlin-Neukölln richtet, keiner mehr sein, der einzelne Akteure mit ihren Praktiken und Bedürfnissen im Spannungsfeld von Integration und Desintegration wahrnehmen könnte.
Wenn Sarrazin mit viel vergleichender Statistik, philosophischen, soziologischen Anleihen, lebensweltlichen Beschreibungen von Hartz-IV-Empfängern und persönlichen biographischen Beobachtungen das nicht-muslimische Prekariat einigermaßen komplex mit Problemen und Möglichkeiten beschreibt und es so als integrierbar für Deutschland verorten kann, entlässt er die deutsch-türkischen Migranten in einen globalen fanatisch-islamischen Raum – ohne jegliche soziale Bindung an deutsche Akteure und an Deutschland, das so für sie nur ein Niemandsland sein kann. Indem er sie künstlich aus dem Prekariat ausschließt, hält er andere Parameter für sie anwendbar: Ihm sind sie nur zu modernen Subjekten erziehbar, wenn sie sich assimilieren und nicht einfach integrieren. Wenn Integration nach klassischen Migrationstheorien unterschiedlichen kulturellen Prägungen Raum gewährt, verlangt die Assimilation die Aufgabe dieser.
Fazit
Und erst mit dieser Trennung der Welten und dem damit verbundenen narrativen Bruch von der Integration zur Assimilation in der Beschreibung der prekären Akteure eskaliert Sarrazins Buch zu einer Niedergangsliteratur, die durch ihre zunehmende Unschärfe die Chance verspielt, ein konstruktiver und seriöser politischer Beitrag für die Integration deutsch-türkischer Muslime zu sein. Diese eskalierende Unschärfe in „Deutschland schafft sich ab“ trifft einen gesellschaftspolitischen Nerv, die bei einer klaren und angemessen differenzierten Analyse aller prekären Akteure mit Statistik und Lebenswelt hätte vermieden werden können und in Sarrazins repräsentativ-öffentlichen Position hätte vermieden werden müssen.