Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

An der Grenze der Legalität

Arbeitsmigration in Russland heute

Von Madeleine Reeves

Wenn wir an Staaten denken, die jüngst von Einwanderungswellen betroffen waren, kommt uns Russland meist nicht als Erstes in den Sinn. Wohl wird innerhalb wie außerhalb Russlands viel über die Identität des Landes als multiethnischer Staat und über das Vermächtnis seiner ,inneren Kolonisation‘ im Laufe der Jahrhunderte diskutiert.
Doch wenn es um transnationale Migrationsprozesse geht, steht Russland als Land der Auswanderung im wissenschaftlichen und öffentlichen Fokus – Stichwort Fachkräfte-Abwanderung, Emigration, Menschenhandel. Weniger konzentriert man sich auf seine Rolle als neues Einwanderungsland.

Köchin
Wie diese Köchin lassen viele Kirgisinnen ihre Kinder in der Obhut der Großeltern, während sie für Saisonarbeit nach Russland migrieren. Foto: Madeleine Reeves

Tatsächlich ist Russland jedoch seit Mitte 2010 nach den USA und Deutschland das drittgrößte Aufnahmeland von Migranten weltweit. Einen großen Anteil macht saisonale oder vorübergehende Migration aus Russlands sogenanntem „nahen Ausland“ (russ. blizhnee zarubezh‘e) aus: vor allem aus dem Kaukasus und Zentralasien. Teilweise trieben wirtschaftliche Instabilität und hohe ländliche Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern diese neue Welle der postsowjetischen Migration an.

Kirgistan, Tadschikistan und Moldawien beispielsweise gehören heute zu den fünf Volkswirtschaften der Welt, die am stärksten auf Rücküberweisungen von Migranten an ihre daheimgebliebenen Angehörigen angewiesen sind. Teilweise intensivierte aber auch der auf Öl-Reichtum basierende Bauboom, den das Land während Putins erster Amtszeit als Präsident (2000–2008) erlebte, die Migrationsdynamik. Dieser Bauboom in einer Zeit, als die erwerbsfähige Bevölkerung in Russland selbst altersbedingt abnahm, schuf eine beispiellose Nachfrage nach billigen, willigen Arbeitern aus den ärmeren postsowjetischen Nachbarländern. Im ländlichen Zentralasien, wo ich seit 1999 forsche, ist „in die Stadt zu gehen“ (kirg. shaarga baruu) – also nach Russland zur Arbeitssaison abzureisen – so etwas wie ein Übergangsritus für Männer und Frauen geworden, die die Schule abgeschlossen haben. Und die ländliche Bevölkerung baut auf Rücküberweisungen von russischen Löhnen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Wie sich gesellschaftliches Leben verändert

Die neue Abhängigkeit von der Migration wirkt sich dramatisch auf berufliche und private Entscheidungen von jungen Menschen im ländlichen Kirgistan aus, etwa in Bezug auf Studium oder Heirat. Im Gebiet Batken, der südlichen Region des Landes, ist beispielsweise der Brautpreis (kirg. kalym) seit Beginn der 2000er-Jahre dramatisch angestiegen und junge Männer müssen mehrere Saisons in Russland arbeiten, um sich die Eheschließung leisten zu können. Gleichzeitig wird die Hochschulausbildung weniger wertgeschätzt, da die jungen Menschen fünf Jahre eines teuren Studiums nur als Verzögerung betrachten, bevor sie ohnehin auf dem russischen Bau arbeiten müssen. In einem Dorf in der Region Batken, so meine Ergebnisse langjähriger Feldforschung, hängt der Lebensunterhalt von 85 % der Familien direkt von Einkommen aus Russland ab. Ältere Leute vergleichen die saisonale Migration dabei häufig mit den Zeiten der Entbehrung während des Krieges, als die leistungsfähigen Männer „an die Front“ geschickt wurden. Von der Migration wird folglich mit gemischten Gefühlen gesprochen, einerseits als unerlässlich, um Haushalte über der Armutsgrenze zu halten und um „den Weg in die Zukunft nicht zu verbauen“ (genauer gesagt, um den Glauben an eine Zukunft, die noch eine Zukunft hat, nicht zu verlieren).

Wie anderswo auf der Welt ist Arbeitsmigration derart aufgeladen mit sozialen und moralischen Spannungen, dass dadurch die Zukunftsaussichten und Vorstellungswelten der Menschen deutlich geprägt werden.

Andererseits sind jedoch die Einschnitte in die soziale Struktur von Familien und Gemeinschaften deutlich spürbar. In Batken werden Kirgisisch sprechende Kinder, die in Russland aufwachsen, oft als übermäßig „frei“ (kirg. erke) oder „ungezogen“ (kirg. shok) beschrieben. Jungen, unverheirateten Frauen, die in Russland außerhalb der sozialen Kontrolle älterer Verwandter arbeiten, wird manchmal nachgesagt, sie seien durch die Stadt und die urbanen Sitten „verdorben“ (kirg. buzuldu). Wie anderswo auf der Welt ist Arbeitsmigration derart aufgeladen mit sozialen und moralischen Spannungen, dass dadurch die Zukunftsaussichten und Vorstellungswelten der Menschen deutlich geprägt werden.

Migration verändert auch das städtische Leben in Russland. In Städten im gesamten europäischen Russland und Sibirien sind Nichtrussen, die oft über wenige Kenntnisse der russischen Sprache und Kultur verfügen, in bestimmten Branchen in der Überzahl, darunter dem Bausektor, der Gastronomie und dem häuslichen Dienstleistungssektor. Dies hat die Frage der ,Anpassung und Integration‘ (russ. adaptatsiia i integratsiia) von Migranten zum Gegenstand intensiver politischer Debatten und staatlicher Interventionen gemacht. Es gab weitläufige Kampagnen gegen sogenannte ,illegale Einwanderung‘, oft motiviert von einer kaum verhohlenen Fremdenangst.

Und solche Kampagnen beschränkten sich dabei nicht auf rechtsextreme Gruppierungen. Im Jahr 2013 propagierte der liberale oppositionelle Aktivist und Kandidat für das Bürgermeisteramt in Moskau, Alexei Naval‘nyi, eine Visumspflicht für die Staaten Zentralasiens, als Pfeiler seines Wahlprogramms gegen Amtsinhaber Sergei Sobyanin. Russlands Politiker sehen sich vor der schwierigen Aufgabe, Gesetze anzupassen oder aktualisieren zu müssen, die in den 1990er-Jahren entwickelt wurden. Damals galt es, die ,Rückkehrmigration‘ russischer Volksangehöriger zu bewältigen und somit eine ganz anders gelagerte Migration.

Zwar reist ein Großteil der Saisonarbeiter aus Zentralasien legal ohne Visum in Russland ein. Doch viele von ihnen geraten innerhalb weniger Wochen nach ihrer Ankunft mit Verordnungen bezüglich Unterbringung, Arbeit und Daueraufenthaltserlaubnis in Konflikt. Arbeitgeber weigern sich wegen der höheren Kosten häufig, Arbeitsmigranten legal zu beschäftigen. Unternehmen kommt es oft günstiger, Strafgebühren für Schwarzarbeit zu zahlen als für Sozialleistungen, Krankenversicherung und Urlaubsgeld aufzukommen, was Arbeitgebern gesetzlich vorgeschrieben ist.

Die Moskauer Arbeitsmarktstruktur und insbesondere die Nachfrage nach unregistrierten, schwarz angestellten Baubrigaden bedeutet, dass die meisten Arbeitsmigranten de facto ohne Arbeitsvertrag oder Arbeitserlaubnis und stattdessen mit gefälschten oder ausgeliehenen Dokumenten arbeiten. Unter meinen Interviewpartnern kam es jedoch noch häufiger vor, dass sie sich während ihres Migrationsverlaufs zwischen legaler und illegaler Arbeit hin und her bewegten. Oder sie waren auf vielerlei Subunternehmen angewiesen, die ihnen eine zumindest dem Namen nach ,echte‘ Arbeitserlaubnis ausstellten.

Wie legale Klippen umschifft werden

An dieser Schnittstelle, wo sich verändernde Migrationspolitik und konkrete Migrationserfahrung aufeinandertreffen, versucht meine Forschung empirisch und analytisch anzusetzen. Während zunehmend Studien über Entwicklungen in der russischen Migrationspolitik, über Umsiedlung und Staatsbürgerschaft erscheinen, wissen wir immer noch vergleichsweise wenig über die Strategien der saisonalen Migranten, staatlich anerkannt zu werden und zu bleiben. Ebenso wenig ist bekannt, welche persönlichen und sozialen Folgen es hat, wenn man de facto ‚illegal‘ wird.

Die Unterscheidung zwischen ‚dokumentierten‘ und ‚undokumentierten‘ Migranten geht am Kern der Sache vorbei. Die meisten Arbeitsmigranten aus Zentralasien sind ‚fiktiv überdokumentiert‘.

Ganz im Gegensatz zu der vielzähligen relevanten anthropologischen Literatur über die Erfahrungen von Migranten (einschließlich ‚undokumentierter‘ oder ‚irregulärer‘ Migranten) in Nordamerika, Westeuropa oder den Golfstaaten, hat die Anthropologie der Bedeutung und Folgen von Migration im post-sowjetischen Kontext kaum Aufmerksamkeit geschenkt; und noch weniger der Frage, was es bedeutet, legale Dokumente zu erhalten, zu behalten oder sie wieder zu verlieren.Meine Forschung in Konstanz analysiert dies, indem sie sich auf den alltäglichen Umgang mit dem Gesetz konzentriert. Das Projekt gruppiert sich um drei Fragenkomplexe:

  1. Wie versuchen Arbeitsmigranten aus Kirgistan, einen legalen Status in Russland zu er- und behalten? Das heißt, wie kommen sie an die vielen nötigen Dokumente und Genehmigungen, um sich dort legal aufzuhalten und zu arbeiten?
  2. Welche Rolle spielen offizielle und informelle Makler bei der Vermittlung von Wohnraum, Arbeit, Dokumenten und Sozialleistungen an Migranten? Was sind die sozialen und materiellen Infrastrukturen, die in Russlands ,Gefälligkeitsökonomie‘ den migrantischen Zugang zum Arbeitsmarkt bestimmen?
  3. Welche Folgen hat es, keine gültigen Dokumente zu haben oder sie zu verlieren, wenn man in Folge Diskriminierung, Ausbeutung oder unfaire Kündigungen erfährt? Wie versuchen solche Migranten, Druck auf Arbeitgeber auszuüben, wenn sie nicht oder schlecht entlohnt werden?

Meine anthropologische Forschung basiert auf langfristiger teilnehmender Beobachtung. In den Jahren 2009 und 2010 führte ich mit kirgisischen Migranten und ihren Familien (auf Kirgisisch und Russisch) eine Langzeit-Feldstudie in der Region Batken und in Moskau durch. Währenddessen lebte ich bei den Familien und leitete eine Haushaltsbefragung über Migration und ihre Auswirkungen in vier Dörfern, wo Verwandtschaftsverhältnisse bestanden, an der Südgrenze von Kirgistan mit Tadschikistan. Diese sozialen Netzwerke verfolgte ich bis in die Stadt und die Region Moskau weiter.

Dort forschte ich in zwei sogenannten „Gummi-Apartments“ (russ. rezinovye kvartiry), die von ,etablierten‘ kirgisischen Migranten an etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig Verwandte vermietet und untervermietet wurden, die dort auf engstem Raum in Zwei- oder Dreizimmer-Wohnungen lebten. Viel Zeit verbrachte ich mit Arbeitsmigranten in der Schlange, während sie anstanden, um die zahlreichen Dokumente zu erhalten oder zu erneuern, die dem Staat ihre Identität belegen: kurz- und langfristige Wohnsitzregistrierungen, Arbeitserlaubnisse, ärztliche Bescheinigungen, Migrationskarten und Einreisestempel.

Migranten berichteten mir von ihren Erfahrungen, wenn es darum ging festzustellen, ob Dokumente, die sie mit Hilfe kommerzieller Vermittler erlangt hatten, wirklich „echt“ waren oder nicht. Jumabek, ein Busfahrer in seinen Fünfzigern, beispielsweise wartete mehrere Monate auf eine Arbeitserlaubnis, nur um zu entdecken, dass der Vermittler, den er mit deren Beschaffung betraut hatte, ihn mit einer Fälschung betrogen hatte.

Die gängige wissenschaftliche und politische Unterscheidung zwischen ‚dokumentierten‘ und ‚undokumentierten‘ Migranten, so zeigen meine Untersuchungen, geht am Kern der Sache vorbei – oder zumindest erfasst sie nicht die ganze Reichweite an migrantischen Erfahrungen im städtischen Russland. Die meisten Arbeitsmigranten aus Zentralasien, die in der russischen Metropole leben, sind weniger undokumentiert als vielmehr ‚fiktiv überdokumentiert‘: Das heißt, sie besitzen eine Unmenge von Dokumenten, meist über kommerzielle Vermittler beschafft, die echt sein können oder auch nicht.

In vielen Fällen ist die tatsächliche Echtheit eines Dokuments weniger wichtig, als dass es wie ein echtes funktioniert – bei Begegnungen mit Migrationsbeamten oder Strafverfolgungsbehörden. Dies hat Auswirkungen, die weit über den russischen Kontext hinausreichen. Im alltäglichen Diskurs wird die Unterscheidung zwischen dokumentierter/undokumentierter, legaler/illegaler und regulärer/irregulärer Migration für selbstverständlich gehalten und auch analytisch nicht weiter hinterfragt. Meine Forschungsarbeit weist auf die unscharfen Grenzen hin, die zwischen den Kategorien in der Praxis bestehen, und auf die komplexen Strategien, mit denen Arbeitsmigranten an diesen navigieren.

Madeleine Reeves

Sozialanthropologin Madeleine Reeves ist Senior Lecturer an der britischen University of Manchester. 2016/17 forscht sie am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz zum Thema „Near Abroad: Labour, Law and Hope in Migrant Moscow“.

Themen Thesen Texte

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 6/2017.

Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht) oder als E-Book zum Download.

Inhalt

Die Großzügigkeit der kanadischen und deutschen Asylsysteme: eine Mär?
Lorenz Neuberger

An der Grenze der Legalität
Arbeitsmigration in Russland heute
Madeleine Reeves

„Bürgerengagement muss manchmal ungemütlich sein“
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