Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Bologna und die Universitäten

von Wolfgang Seibel

Transparent mit der Aufschrift "Bildung statt Punkte".
Demonstration am 17. Juni 2009 in Jena. Foto: flickr.com. Einige Rechte vorbehalten.

Unter deutschen Professoren und Feuilleton-Redakteuren gehört es zum guten Ton, die Nase über „Bologna“ zu rümpfen. Die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen gilt vielen als mutwilliger Oktroi mit negativen, wenn nicht gar desaströsen Wirkungen namentlich in den Geisteswissenschaften. Deutsche Hochschullehrer solidarisieren sich mit ihren demonstrierenden Studierenden, viele von ihnen sind in der vergangenen Woche buchstäblich auf die Straße gegangen. Wenig Mühe wird darauf verwandt, die politische und fachliche Logik dieses Reformprozesses zu studieren. Wo liegen die Herausforderungen des „Bologna“-Prozesses für die Universitäten und welche Spielräume haben die Universitäten und damit die Professoren, ihnen gerecht zu werden? Die Frage kann man anhand der verbreiteten Bologna-Mythen durchdeklinieren. Sie lauten „Verschulung“ des Studiums, ausbleibende Internationalisierung, Einschränkung der Mobilität, fehlender Praxisbezug und unsachgemäße Verwendung von Studiengebühren (oder überhaupt deren Erhebung).

Verschulte Studiengänge?

Was als „Verschulung“ bezeichnet wird, ist oft nichts anderes als eine phantasielose Umsetzung der wesentlichen Ziele der am 19. Juni 1999 in Bologna verabschiedeten bildungspolitischen Erklärung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diese Erklärung war die logische Konsequenz aus dem Gemeinsamen Binnenmarkt. Die historisch gewachsenen Vielfalt der europäischen Bildungslandschaft sollte mit der höheren Mobilität namentlich der hochqualifizierten Arbeitskräfte in Einklang gebracht werden. Daher das Ziel der Vergleichbarkeit und Kompatibilität der äußeren und inneren Strukturen der höheren Bildungsgänge in den Mitgliedstaaten der EU und die Einführung vergleichbarer Abschlüsse, also Bachelor und Master, und eines Leistungspunktesystems. In Deutschland und in vielen anderen EU-Mitgliedstaaten wurde dies ergänzt durch die Einrichtung übergreifender Lehreinheiten (Module), die ihrerseits die Struktur eines Studiengangs übersichtlicher und damit auch im internationalen Vergleich transparenter machen sollten. Soweit so gut.

Gut strukturierte Studiengänge haben ihren Studierenden bereits vor „Bologna“ gegliederte Studien- und Prüfungsbedingungen geboten, die vor allem den Lehrenden etwas abverlangen.

In vielen Fächern wurden mit diesen Anforderungen offene Türen eingerannt. Gut strukturierte Studiengänge an Universitäten und Fakultäten, die auf sich hielten, haben ihren Studierenden bereits vor „Bologna“ gegliederte Studien- und Prüfungsbedingungen geboten, die nicht in erster Linie den Studierenden, sondern vor allem den Lehrenden etwas abverlangen. Eine am internationalen Forschungsstand orientierte Lehre mit zusätzlicher Unterstützung durch Übungen, Tutorien, eine gut ausgestattete und leicht zugängliche Bibliothek einschließlich der neuesten elektronischen Recherchemöglichkeiten und natürlich einer durchgehenden Bewertung aller Lehrveranstaltungen durch die Studierenden. Ein professioneller Studienbetrieb auf hohem wissenschaftlichen Niveau, in dem zunächst einmal die Lehrenden Mindeststandards von Organisation und Betreuung der Studierenden erfüllen müssen, ist fordernd. Er ist jedenfalls unbequemer als ein Pseudo-Curriculum, das die Professorinnen und Professoren nur pro forma erfüllen, indem sie ihren Lehrveranstaltungen Etiketten nach der Prüfungsordnung ankleben.

Einschränkung der Mobilität durch Bachelor und Master?

Wirklichkeitsfremd erscheinen auch die Klagen über eine Einschränkung der Internationalität und der Mobilität der Studierenden, namentlich in den Bachelor-Studiengängen. So heißt es zum Beispiel, das Modul-System erschwere die wechselseitige Anerkennung von Studienleistungen bei Auslandssemestern. Es hat aber niemand die Universitäten gezwungen, die Teilabschnitte ihrer Studiengänge zu hermetisch abgeschlossenen Lehrkontingenten auszubetonieren. Eher haben sich Fachbereiche einen solchen Unsinn von Akkreditierungskommissionen einreden lassen. Maßgebliche Berechnungseinheit für den internationalen Vergleich von Studienleistungen bleibt das European Credit Transfer System (ECTS), und dieses hat die einzelne Lehrveranstaltung als Basiseinheit.

Die Heimatfachbereiche der Studierenden in Deutschland müssen lediglich die Anrechnung der Lehrveranstaltungen flexibel und gegenüber den Bedürfnissen der Studierenden wohlwollend handhaben. In gut organisierten Fachbereichen und Fakultäten läuft dies wie am Schnürchen. Solche Fachbereiche ermöglichen mehr als der Hälfte ihrer Studierenden ein Auslandssemester schon während des Bachelor-Studiums. Dies setzt gut entwickelte Kontakte zu einer Vielzahl ausländischer Universitäten innerhalb und außerhalb des Bologna-Raumes voraus. Auch das ist eine Organisationsaufgabe und die Universitäten müssen sie als solche begreifen und bewältigen. Wer dies nicht tut und damit den Studierenden den Zugang zum „europäischen Hochschulraum“ mutwillig verwehrt, sollte sich nicht bei „Bologna“ beklagen, sondern einfach nur schämen. Erst recht, wenn für diese Minderleistung auch noch Studiengebühren verlangt werden.

Praktika im Bachelor-Studium sind möglich

Ähnliches gilt für die Klage über die unzureichende Praxisorientierung in den Bachelor-Studiengängen. Es bleibt den Universitäten unbenommen, dort, wo es in Frage kommt, Pflichtpraktika in ihre Studiengänge zu integrieren. Es gibt auch keine Entschuldigung dafür, dass man die privaten und öffentlichen Arbeitgeber im Unklaren darüber lässt, was die Absolventen der eigenen Bachelor-Studiengänge an berufsrelevanten Qualifikationen mitbringen. Auch hier zeigt sich, dass die Spitzenreiter des jeweiligen Faches an den Universitäten und Fachhochschulen diese Aufgabe bewältigen, dass sie Praktika und, wie erwähnt, Auslandssemester in ein sechssemestriges Bachelor-Studium einbeziehen und trotzdem ihre Studierenden innerhalb der Regelstudienzeit zum ersten akademischen Abschluss führen.

Nicht Studiengebühren, sondern fehlende Stipendien sind das Problem

Wenn diese Herausforderungen von vielen Universitäten in Deutschland nicht bewältigt werden, so liegt das auch an der irrationalen Diskussion, die sich das Land zum Thema Studiengebühren leistet. Der Höchstbetrag dieser Studiengebühren liegt derzeit bei 3000 Euro für ein Bachelor-Studium und 2000 Euro für ein viersemestriges Master-Studium. 5000 Euro für eine wissenschaftliche Ausbildung im obersten Qualifikationssegment für künftige Besserverdienende – das sollte in einem Land mit ausgeprägtem Sinn für soziale Fairness und Verteilungsgerechtigkeit doch eigentlich kein großes Thema sein.

Doch die eigentümliche Diskussion über Studiengebühren ist in Deutschland ausschließlich ideologischer Natur, sie hat mit dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung so gut wie nichts zu tun. Tatsächlich stellen die Ausgaben eines Haushalts für Studiengebühren nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtaufwendungen für ein studierendes Kind dar. Wo es anders ist, weil das Familieneinkommen niedrig liegt und die Aufwendungen für den Lebensunterhalt des studierenden Kindes durch Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) gedeckt werden, liegt der systematische Fehler nicht bei den Studiengebühren, sondern im Fehlen eines effektiven Stipendienwesens. Dies ist ein klares Versäumnis namentlich derjenigen Bundesländer, welche Studiengebühren eingeführt haben und an ihnen – aus guten Gründen – festhalten.

Tatsächlich haben die Studiengebühren die Universitäten demokratischer gemacht.

Tatsächlich haben die Studiengebühren die Universitäten demokratischer gemacht. Gebühren werden im Unterschied zu Steuern für ganz bestimmte Dienstleistungen des Staates gezahlt. Noch nie konnten die Studierenden mit so guten Argumenten auf hochwertige Lehre und guten Service der Universitäten pochen wie sie es heute auf der Basis von Studiengebühren können. Und sie tun dies auch. Erst recht dort, wo die zentralen und dezentralen Einheiten der Universitäten vollständige Transparenz über die Verwendung der Studiengebühreneinnahmen herstellen und die Studierenden in die Entscheidungen über die Verausgabung dieser zusätzlichen Mittel unmittelbar einbeziehen. Gut geführte Universitäten und professionell arbeitende Fachbereiche informieren die Studierenden auf der eigenen Homepage darüber, was im Einzelnen mit den Studiengebühren passiert.

Bologna-Prozess und die Einführung von Studiengebühren verhalten sich also komplementär zueinander. Wo die Universitäten sich begnügen, zusätzliches Lehrpersonal einzustellen und dieses aus Studiengebühreneinnahmen finanzieren, ist allerdings Ineffizienz absehbar. Die Fakultäten und Fachbereiche müssen die zusätzlichen Gelder aus Studiengebühren vor allem dazu verwenden, die studiennahen Dienstleistungen zu verbessern. Sie müssen zum Beispiel Programmkoordinatoren und Beratungsassistenten einstellen, die es den Studierenden ermöglichen, die vielfältigen Möglichkeiten eines Studiums im Zeichen von „Bologna“ auch tatsächlich auszuschöpfen.

Die Chancen der europäischen Bildungslandschaft

Wo die Studierenden heute Mobilitätshemmnissen ausgesetzt sind, statt von Mobilitätsspielräumen zu profitieren, liegt dies weder an ihnen noch an den „Bologna“-Beschlüssen, sondern am Unwillen und an der Unfähigkeit der Universitäten, den „Bologna“-Prozess zu implementieren. Einerseits die Nivellierung der vielfältigen europäischen Bildungslandschaft zu beklagen und andererseits die Spielräume ungenutzt zu lassen, sich im durchlässig gewordenen europäischen Hochschulraum mit den eigenen Besonderheiten und Stärken zu profilieren, ist törich und riskant. Denn die Mobilität in diesem europäischen Hochschulraum ist nicht nur tatsächlich gegeben, sie kommt auf eine Weise zum Tragen, die gerade die Spitzengruppe der Fakultäten und Fachbereiche in Deutschland vor ganz neue Herausforderungen stellt.

Gerade die guten und sehr guten Absolventen der Bachelor-Studiengänge gehen zur Fortsetzung ihres Studiums im Master-Abschnitt gerne ins Ausland. Die Fachbereiche müssen also ihre Master-Studiengänge stärker profilieren und trotzdem zu enge Spezialisierungen vermeiden. Außerdem müssen sie weitere fachlich abgestimmte Austauschprogramme entwickeln, auch solche, in denen Studierende innerhalb von vier Semestern einen weiteren Abschluss an einer ausländischen Universität erwerben können („Dual-Degree Programme“). Dies setzt erneut Strategiefähigkeit und gute Organisation voraus. Wo beides nicht vorhanden ist, wird man den viel bemühten Wettbewerb und die besten Köpfe verlieren und damit mittelfristig auch die nachhaltige personelle Substanz in der Forschung.

Trend zur Zweiklassengesellschaft

Die eigentliche Herausforderung, vor die die Universitäten durch den „Bologna“-Prozess gestellt sind, liegt daher im Umgang mit dem Trend zur Zweiklassengesellschaft in der deutschen Hochschullandschaft. Die besseren Universitäten beweisen schon heute ihre Fähigkeit, sich im Wettbewerb des „europäischen Hochschulraums“ mit attraktiven Bachelor- und Master-Studien­gän­gen zu behaupten und die dafür unabdingbaren Strukturveränderungen, einschließlich der Umverteilung von Personalressourcen, zustande zu bringen.

Es sind, wenn die Zeichen nicht trügen, im Großen und Ganzen dieselben Universitäten, die sich mit Spitzenleistungen in der Forschung in den Exzellenzinitiativen von Bund und Ländern durchgesetzt haben. Es sind vermutlich auch überwiegend Universitäten in Bundesländern, die Studiengebühren erheben. Das Lamento über „Bologna“ und Studiengebühren leistet, so muss man befürchten, eher einen Beitrag zur mentalen und praktischen Abkoppelung der weniger guten oder mittelmäßigen Universitäten von einem Erfolgspfad, den ihnen der „Bologna“-Prozess so vielversprechend eröffnet hatte.

Wolfgang Seibel

Prof. Dr. Wolfgang Seibel lehrt Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz. Er ist Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters und zurzeit Kollegiat am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz. Er forscht u.a. zu „Prekären Organisationen“, „Failing States and Dark Networks“ und „Transkulturelles Verwalten in modernen Protektoraten“.

Der Aufsatz erschien zuerst unter dem Titel „Bologna ist die Zukunft“ in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Juni 2009. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.