Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Nur ein bettelnder Schüler ist ein guter Schüler

Interview mit Sarah Fuchs

In Senegals Hauptstadt Dakar trifft man an jeder Straßenecke Kinder, die um Almosen betteln. Doch das hat in diesem vergleichsweise gut situierten westafrikanischen Land nicht nur mit Armut zu tun.

Sarah Fuchs
Sarah Fuchs

Warum betteln so viele Kinder in Dakar?

Fuchs: Viele der bettelnden Kinder sind talibés, Koranschüler. Ihre Lehrer bekommen traditionell keine Unterstützung, weder vom Staat noch von den Eltern der Kinder. Dabei leben die Kinder auch in den Koranschulen, die die ältesten Bildungseinrichtungen im Senegal sind.

Früher haben die Koranschüler in der Dorfgemeinschaft gebettelt, um sich und ihren maître, den Koranlehrer, und dessen Familie ernähren zu können. In den 70er-Jahren herrschte eine extreme Dürre, die die Armut auf dem Land verschärfte. Die Folge war Landflucht in die Städte, vor allem nach Dakar. Und die daaras, die Koranschulen, zogen mit, weil die Dorfbewohner selbst nichts hatten und zur Unterstützung der Schulen nichts mehr abgeben konnten. So erklären es zumindest diejenigen unter den Senegalesen, die die Koranschulen nicht per se stigmatisieren wollen.

Das Betteln der talibés ist also ein Armutsphänomen?

Fuchs: Die ursprüngliche Form des Bettelns auf dem Lande hatte vor allem auch eine erzieherische Bedeutung. Die Kinder sollten Demut lernen, an ein einfaches Leben, ein Leben in Armut gewöhnt werden, um später nicht hochmütig gegenüber anderen zu sein. Sowohl arme als auch reiche Kinder haben zusammen gebettelt. Auch wenn das Betteln immer schon dem Unterhalt der Koranschule gedient hat, ist es eine zu grobe Vereinfachung, das Betteln als reines Armutsphänomen zu verstehen.

Heute jedoch gibt es immer mehr kritische Stimmen, die manchen ,falschen‘ Koranlehrern Profitgier unterstellen. Diese würden möglichst viele Kinder rekrutieren und mit einer oft sehr hohen täglichen Abgabe belegen, um am Monatsende ein fürstliches Gehalt einzustreichen.

Wird da nicht der Vorwurf von Menschenhandel oder Kinderarbeit laut?

Fuchs: Das Phänomen Menschenhandel oder in dem Fall Kinderhandel ist ein relativ neues, ein Trend-Paradigma, das mit dem Palermo-Protokoll aus dem Jahr 2000 aufkam, welches den Menschenhandel definiert. Kurz gesagt braucht es für Menschenhandel drei notwendige Elemente: Was wird gemacht? Mit welchen Mitteln? Und zu welchem Zweck? Also die Verbringung einer Person, und dies umfasst zum Beispiel deren Rekrutierung oder Transport, unter Androhung von Gewalt zum Zweck der Ausbeutung.

Interessanterweise ist bei Kinderhandel das Mittel hinfällig. Das heißt, es reicht, ein Kind irgendwohin zu bringen, um es dort auszubeuten. Daher kann Kinderhandel auch leichter diagnostiziert werden als Menschenhandel von Erwachsenen. Dennoch ist es natürlich schwer, jemandem eine bestimmte Intention wie Ausbeutung nachzuweisen und überhaupt einen Konsens darüber zu finden, was Ausbeutung bedeutet.

Bei den bettelnden talibés scheint die Sachlage aber doch klar?

Fuchs: Nicht ganz. Viele Senegalesen, auch Kinderrechtsakteure, mit denen ich gesprochen habe, würden zwar einige Fälle der bettelnden talibés als Ausbeutung bezeichnen, finden aber den Begriff Kinderhandel unpassend, weil Menschenhandel komplett andere Assoziationen in ihnen hervorruft. Das kommt auch daher, dass im Senegal der transnationale Sklavenhandel noch fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Die meisten Senegalesen, mit denen ich sprach, wollten jedenfalls die Praktiken der Koranlehrer definitiv nicht mit Menschenhandel gleichsetzen.

Worauf stützen sich die Vorwürfe, die Kinder würden ausgebeutet, und inwiefern treffen sie zu?

Fuchs: Das ist genau der schwierige Punkt, weil die Bandbreite eben so groß ist: Manche Koranschulen lassen gar nicht betteln. Das sind meistens solche, zu denen die Kinder nur tagsüber kommen und sonst bei ihren Eltern wohnen. Andere sind sehr gut ausgestattet, weil die Eltern einen monatlichen Beitrag zahlen. Patenschaften durch Frauen in der unmittelbaren Umgebung der Koranschulen sind ein weiterer Ansatz, um das Betteln der Koranschüler zu verhindern oder stark einzuschränken. In den meisten ärmlichen Koranschulen jedoch – und die stehen im Visier dieser Debatte – wird von den Schülern verlangt, um Geld zu betteln.

Wie viel müssen diese Kinder denn erbetteln?

Fuchs: Manche Koranlehrer schicken die Kinder ohne einen Zielbetrag betteln. Und bei den anderen variiert dieser mitunter stark, teilweise um ein Zehnfaches. Wenn wie in vielen Koranschulen umgerechnet 20 Cent pro Tag verlangt werden, ist das für die talibés nicht besonders schwierig zu erreichen. Oft können sie zusätzlich sogar etwas Geld für sich selbst zurücklegen. Allerdings weiß ich auch aus erster Hand von talibés, die am Ende des Tages eine hohe Summe zusammenhaben müssen.

Talibés betteln in Bakel/Tambacounda, Senegal
Talibés betteln in Bakel/Tambacounda, Senegal (Talibe on the way to Bakel looking pretty mangy). Foto: Barry Pousman. Bestimmte Rechte vorbehalten

Das wäre zum Beispiel?

Fuchs: Also die höchsten Beträge, mit denen ich in Berührung kam, waren 1000 XOF, etwa 1,50 € pro Kind. Wenn sie den Betrag nicht bringen, werden sie in den meisten Fällen bestraft, also meist heftig geschlagen. NGO-Berichte stützen sich oft auf die schlimmsten Beispiele, wenn Kinder zur Strafe halb totgeschlagen werden. Vergangenes Jahr fand ein Fall in den Medien große Beachtung, als ein talibé von seinem maître schlafend entdeckt und daraufhin totgeprügelt wurde. Die Mitarbeiterin einer französischen Hilfsorganisation erzählte mir von einem anderen Fall, als ein talibé sich von seinem erbettelten Betrag selbst etwas zu essen gekauft hatte. Als der maître das mitbekam, hat er ihn schwer misshandelt.

Warum schicken die Eltern ihre Kinder trotz möglicher Misshandlungen zu diesen Koranlehrern?

Fuchs: Viele Eltern verfolgen ein anderes Erziehungskonzept – eines, in dem die Idee der Abhärtung vorherrscht. Darüber hinaus gilt es unter Muslimen als das höchste Ziel, den Koran zu erlernen, für das das Kind ruhig leiden kann oder soll. Die staatliche Schule ist zwar offiziell gratis, aber trotzdem mit Kosten verbunden, wie der Einschreibegebühr oder der Schuluniform. In ärmeren ländlichen Gegenden können sich das viele nicht leisten, sodass die Koranausbildung für viele Eltern die einzige Möglichkeit ist, ihrem Kind überhaupt eine Form von Bildung zukommen zu lassen. Oft sind die Eltern auch mit dem Koranlehrer verwandt oder befreundet. Wenn etwa der Onkel Koranlehrer ist und sie auffordert: „Gebt mir doch meinen Neffen mit, ich bringe ihm den Koran bei!“ können Eltern dort so ein Angebot schon aus sozialen Gründen nicht ablehnen.

Und wohlhabendere Eltern?

Fuchs: Städter vor allem der oberen Gesellschaftsschichten dämonisieren nicht selten dieses Verhalten. Häufig hörte ich: „Diese Eltern entledigen sich ihrer Kinder, weil sie einen Esser loswerden wollen.“ Oder: „Wie kann man so was machen, ich würde lieber mit meinem Kind zusammen Sand essen, als mein Kind fortschicken!“ An solchen Äußerungen merkt man, dass sich dieses Bevölkerungsmilieu viel stärker an einem transnationalen, westlich geprägten Erziehungskonzept orientiert.

Schon der Name der Schulen deutet auf ein muslimisches Phänomen hin.

Fuchs: 95 Prozent der senegalesischen Bevölkerung ist muslimisch. Den Koran zu erlernen, hat einen entsprechend hohen sozialen und religiösen Stellenwert. Während die säkulare Schule von der französischen Kolonialverwaltung eingeführt wurde und auch heute noch eine nahezu identische Kopie des französischen Unterrichts ist, gilt der Koranunterricht als diejenige Form der Ausbildung, die stärker in der senegalesischen Kultur verankert ist.

Und Betteln wird im Islam gutgeheißen?

Fuchs: Der Koran schreibt nicht vor, dass während des Koranstudiums gebettelt werden muss. Nach Almosen zu fragen und solche zu geben, wird aber sehr wohl koranisch gestützt. Der Koran definiert zum Beispiel acht Kategorien von Personen, denen Almosen gegeben werden sollen. Ob die talibés dazugehören oder ob gerade Kinder auf keinen Fall betteln sollen, ist wiederum Auslegungssache. Kinderrechtsakteure versuchen zunehmend, auch ihre Ablehnung gegenüber dem Betteln koranisch herzuleiten. Schon der Prophet, sagen sie beispielsweise, habe Kinder geliebt und eine gute Behandlung von Kindern vorgeschrieben. Auf die Bevölkerung wirkt eine solche Argumentation sehr viel überzeugender, als ein staatliches Gesetz gegen Betteln zu zitieren. Denn Staat und Gesetz werden traditionell mit dem kolonialen Erbe in Verbindung gebracht und damit mit etwas, das von der Lebensrealität der Bevölkerung entkoppelt ist.

Welche Schwerpunkte setzen Sie als Ethnologin in der Erforschung von Kinderhandel?

Fuchs: Als Mitglied der ethnologischen Projektgruppe „Menschenhandel“ ging es mir zunächst darum, die entsprechenden Diskurse im Senegal multiperspektivisch zu untersuchen. Vor Ort habe ich festgestellt, dass Menschenhandel dort vor allem im Zusammenhang mit den bettelnden talibés diskutiert wird. Mein Glück war – und das ist so wichtig für ethnologische Feldforschung –, dass ich relativ früh einen so genannten gatekeeper kennen lernte. Diese Kontaktperson kannte ganz viele Leute aus den unterschiedlichsten Bereichen und arrangierte viele Interviewtermine für mich, gerade auch bei Personen, zu denen man recht schwer Zugang bekommt, zum Beispiel zur Polizei oder eben zu Koranlehrern.

Wie haben die Koranlehrer darauf reagiert, wenn Sie mit ihnen reden wollten?

Fuchs: Zu Koranschulen, die in einem besseren Zustand waren, bekam ich natürlich leichter Zugang als zu den kritischeren Beispielen. Aber auch Koranlehrer, die viel betteln lassen, betrachten dies nicht als illegitim und verteidigen das Betteln aus ihrer Perspektive. Daher konnte ich trotzdem ziemlich umfassende Einblicke in die unterschiedlichen Koranschulformen erhalten und wurde auch Zeuge sehr prekärer Fälle.

Schildern Sie so einen prekären Fall!

Fuchs: Einmal bin ich in eine sehr heruntergekommene Koranschule gekommen. Das war eigentlich bloß eine Bauruine, ein unfertiges Haus. Eine ganz steile Treppe, von der ich selbst fast heruntergefallen wäre, führte nach oben. Im Gespräch fragte ich den Lehrer, ob seine Schüler am Ende des Tages feste Abgaben bringen müssten. Mit gesenktem Blick sagte er „nein“ und wechselte schnell das Thema. Daran merkte ich, dass diese Antwort vermutlich nicht korrekt war, und wollte wissen, was seine Motive waren, diese Koranschule zu betreiben. Darauf antwortete er: „Ich komme aus Kolda und die Situation da ist so schlecht, dass ich eben in die Stadt musste.“ Kolda ist eine ländliche Region, die sehr oft die Herkunftsregion von Koranlehrern und talibés ist. Mit Blick auf die extrem prekären Bedingungen dieser Schule habe ich erwidert, dass sich die Situation für ihn offensichtlich nicht verbessert habe. Da meinte er: „Für Sie ist das vielleicht arm, aber auf dem Land ist es noch schlechter.“ Was Normalität ist, hängt natürlich von der Perspektive ab.

Sie haben Ihr Dissertationsprojekt „Kriminelle Kultur? Kontroversen um Menschenhandel und bettelnde Koranschüler“ betitelt. Inwiefern kann man eine kulturelle Praktik wie das Betteln der talibés als kriminell bezeichnen?

Fuchs: Der Titel ist natürlich bewusst provokant gewählt, darum auch mit Fragezeichen. Denn inwiefern das Betteln als kulturelle Praktik gelten kann, macht einen großen Teil der Kontroversen aus. Die meisten Senegalesen bezeichnen es als eine pervertierte kulturelle Praktik. Manche dagegen sehen das Betteln in Dakar nicht unbedingt als krassen Bruch mit den früheren sinnstiftenden Formen des Bettelns, sondern als Möglichkeit, die Koranschulen trotz fehlender staatlicher Unterstützung vor dem Untergang zu bewahren. Für die Kinderrechtsorganisationen wiederum, die in diesem Zusammenhang Programme gegen Menschenhandel führen, handelt es sich ganz klar um eine kriminelle Praktik. Letztlich fasst die eine wie die andere Perspektive auf ihre Weise zu kurz.

Aber Sie haben doch sicher eine Meinung dazu?

Fuchs: Dass es kriminelle Ausmaße gibt, steht fest, weil Fälle von sehr hohen täglichen Zwangsabgaben und von sehr harten Bestrafungen bekannt sind. Welchen Prozentteil diese schlimmen Fälle ausmachen und wo genau die Grenze des Noch-Akzeptablen ist, da fällt mir ein Urteil schwer. Gerade als Ethnologin geht es mir darum, Perspektiven wechseln zu können und fremde Sinngebungen zu verstehen – und nicht in erster Linie zu beurteilen. Für viele Senegalesen gehören Körperstrafen zur Kindererziehung, für sie ist das ein legitimes Mittel, um Kinder zu korrigieren. Die wenigsten aber werden einverstanden sein, ein Kind blutig zu schlagen, körperlich zu misshandeln.

Welche Strategien werden aktuell verfolgt, um die Situation zu verbessern?

Fuchs: Der Staat tendiert momentan zu der Idee, die daaras, also die Koranschulen, zu modernisieren. Das ist auch meiner Ansicht nach die einzige Möglichkeit, um sowohl den internationalen Kinderrechten und dem senegalesischen Gesetz gegen die „Ausbeutung des Bettelns“ gerecht zu werden, als auch die kulturelle Institution der Koranschule wertzuschätzen, die die meisten Senegalesen als Teil ihrer nationalen Identität betrachten.

Ein erster Gesetzentwurf für eine Modernisierung der daaras, der von der Regierung Ende 2014 vorgestellt wurde, ist jedoch bei den Koranlehrern auf totale Ablehnung gestoßen. Denn dieser stellte hohe Anforderungen an die Koranlehrer, zum Beispiel Bildungsqualifikationen wie einen abiturähnlichen Abschluss, Französisch- oder Arabischkenntnisse, Unterrichtserfahrung und diverse andere Nachweise. Kurz, ein sehr bürokratisierender Prozess sollte mit der Eröffnung oder Führung einer Koranschule einhergehen.

Was spricht dagegen?

Fuchs: Diese Art der Reglementierung und Bürokratisierung steht den traditionellen Prinzipien der Koranschulausbildung entgegen, die auf einer spirituellen, persönlichen Verbindung zwischen maître und Schülern basieren. Weitere Streitpunkte sind, wie viele säkulare Unterrichtseinheiten die moderne daara enthalten darf oder soll, um das Primat der Koranausbildung nicht zu verletzen und den Kindern trotzdem berufliche Perspektiven zu eröffnen. Da die Kolonialverwaltung bereits auf ähnliche Weise versucht hatte, in die Koranausbildung einzugreifen, ist der Verweis auf neokoloniale Attitüden das Totschlagargument konservativ-religiöser Akteure. Ein Dilemma.

Das Interview führte Claudia Marion Voigtmann.

Ethnologin Sarah Fuchs promoviert im Exzellenzcluster zum Thema „Kriminelle Kultur? Kontroversen um Menschenhandel und bettelnde Koranschüler im Senegal“. Sie ist Teil der Projektgruppe „The Anthropology of Transnational Crime Control and Human Trafficking: Case Studies from Sub-Saharan Africa“, die Prof. Dr. Thomas G. Kirsch leitet.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 5/2016.

Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht) oder als E-Book zum Download.

Inhalt

Nur ein bettelnder Schüler ist ein guter Schüler
Interview mit Sarah Fuchs

Exodus und Gewalt
Jan Assmann

„Das Zicklein, das die Trommel zerstört …“
Sprichwörter als Botschaften kulturellen Widerstands
Miriam Lay Brander

Das Dilemma der Gleichheit
Ursula Lehmkuhl

Warum man leichter Katalane wird als Südtiroler
Integration in Minderheitenregionen
Christina Isabel Zuber

Ordnung und Konflikt
Die polizeiliche Deutung von Gefahr in Bombay
Julia Eckert

Einfache Gläubige und späte Konvertiten
Syrien am Ende der Antike
Jack Tannous

Die Kunst der Wissens- und Wertevermittlung
Diana Schmidt-Pfister

Verhandlungssache Asyl
Interview mit Philipp Schäfer