Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Gemeinsam und fächerübergreifend forschen?

Am eigenen Projekt und doch gemeinsam an einem Thema arbeiten – wie kann das gelingen? Einblicke in den Forschungsalltag der Fellows am Kulturwissenschaftlichen Kolleg

Michael Neumann während seines Vortrags
Michael Neumann während seines Vortrags

Der Besprechungsraum der Bischofsvilla am Rhein ist bis auf den letzten Platz gefüllt, als Michael Neumann sein aktuelles Forschungsthema vorstellt. Der Literaturwissenschaftler präsentiert an diesem Abend seine Überlegungen zum Verhältnis von „Öffentlichkeit und Repräsentation“ in Zeiten des Populismus und der Digitalisierung. Zu diesem Rahmenthema haben er und die Kunsthistorikerin Svenia Schneider-Wulf für das akademische Jahr 2017/2018 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an das Kolleg eingeladen, die hier mehrere Monate als Fellows gemeinsam forschen werden.

Das Rahmenthema 2017/2018

Sie werden sich mit der Frage beschäftigen, wie die Unsicherheiten, Verschiebungen und Ungewissheiten erklärt werden können, die in den jüngsten gesellschaftlichen Umbrüchen und Transformationskrisen zutage treten.

  • Wie verändern sich moderne Öffentlichkeiten als Foren von Entscheidungsfindungen im Gefolge neuer Medien?
  • Welche Bedingungen, Vorannahmen und Teilhabevoraussetzungen besitzen sie jeweils?
  • Welche Konsequenzen haben diese Veränderungen für unsere Vorstellungen von Repräsentation? Und welche Rolle spielen Institutionen dabei?

Der Anspruch von Svenia Schneider-Wulf und Michael Neumann ist es, mit diesem Rahmenthema den möglichen Beitrag zu umreißen, den die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zur Gegenwartsdiagnose leisten können. Sie wollen Erklärungsansätze für „die massiven gesellschaftlichen Erregungen, Spannungen und Unversöhnlichkeiten der Gegenwart“ finden, wie Neumann es ausdrückt.

„Der Schwerpunkt richtet das Integrationsthema des Clusters auf Fragen und Probleme aus, zu denen wir als Geisteswissenschaftler etwas zu sagen haben. Wir können damit an verschiedene Arbeitsfelder und Forschungsresultate des Exzellenzclusters anknüpfen,“ erklärt Michael Neumann.

Konkret versprechen sich die beiden Koordinatoren von der Zusammenarbeit der Beteiligten, dass es der Gruppe gelingen könne, „die Grundlagen einer theoretischen Fundierung der gegenwärtigen desintegrativen Prozesse zu erarbeiten.“

Zentral: die Arbeitsgespräche

Fellow Klavdia Smola in der Diskussion
Fellow Klavdia Smola in der Diskussion

Wie aber forscht man gemeinsam, wenn jede und jeder sein eigenes Forschungsvorhaben verfolgt? Die wöchentlichen Arbeitsgespräche, in denen die Fellows ihre laufenden Forschungen vorstellen, sind die wichtigsten Zusammenkünfte während eines Aufenthaltes am Kolleg – und offen für alle Konstanzer, Wissenschaftler/innen wie Interessierte. Wie an diesem Abend diskutieren die Fellows und die anwesenden Konstanzer oft hart am Thema: Sie hinterfragen die gewählte Methode, ergänzen Aspekte, relativieren mögliche Aussagen, weisen in neue Forschungsrichtungen. Es herrscht eine kollegiale Atmosphäre. Oft kommt es, wie heute, zu einer lebhaften und produktiven Debatte.

Der Disput am Kolleg funktioniert, weil sich die Fellows während ihrer Konstanzer Zeit auch im Alltag regelmäßig begegnen: Sie forschen Tür an Tür, treffen sich in der Küche auf einen Kaffee oder zur Lektüre im Aufenthaltsraum mit Sitzecke, kleiner Bibliothek, Zeitschriften und ja, auch Kinderspielzeug. Es sind diese Gespräche und die sich daraus ergebenden Perspektiven, an die sich frühere Fellows nach ihrem Aufenthalt am Kolleg immer wieder als besonders bereichernd erinnern.

Das Team des Kollegs legt daher großen Wert auf die Arbeitsgespräche, denn in der Auseinandersetzung entstehen neue Ideen: Bisher unbeachtete Aspekte oder unbekannte Quellen geraten so beispielsweise in den Blick. Um das Moment des Austauschs weiter zu verstetigen und auf konkrete Fragestellungen anzuwenden, hat sich das Konzept interdisziplinärer Gruppenbildungen am Kolleg bewährt. Es ist in der Vergangenheit mehrfach erprobt worden und schlug sich in den Rahmenthemen des Kollegs nieder.

2015/2016 erforschte eine Gruppe Fellows religiöse Minderheiten, in den Jahren davor standen die Themen Bürokratie und Nichtwissen im Fokus. In welchem Rhythmus die Mitglieder zusammenkommen und welche Arbeitsformen sie etablieren, bleibt ihnen selbst überlassen. Auch, ob die Gruppe eine gemeinsame Veranstaltungsreihe an der Universität organisiert (wie im Fall der „Religiösen Minderheiten“), eine Ausstellung nach Konstanz holt (Bürokratie) oder gemeinsame Buchprojekte realisiert (Nichtwissen).

Neu ist das Konzept des interdisziplinären Gesprächs jedoch nicht – in Konstanz hat es eine lange Geschichte: Die legendäre Forschergruppe Poetik und Hermeneutik hatte seit Gründung der Universität 1966 bis 1994 hier ihren Schwerpunkt. Die kleine Universität der kurzen Wege ist prädestiniert für diese Art des Austauschs. Auch der kulturwissenschaftliche Exzellenzcluster selbst entstand 2006 aus diesem Geist.

Eine Gruppe finden

Bis sich allerdings die Wissenschaftler/innen um den großen Tisch im Sitzungsraum der Bischofsvilla zusammenfinden können, ist es ein weiter Weg. Zuerst identifizieren Konstanzer Wissenschaftler/innen ein Forschungsproblem, dessen Bearbeitung größere Zeiträume in Anspruch nimmt und auf den Austausch zwischen den Disziplinen angewiesen ist. Sie suchen den Kontakt zu anderen Wissenschaftler/innen, mit denen gemeinsam zu forschen als lohnenswert erscheint. Dann schlagen sie die entsprechende Gruppe in einem Antrag als Fellows vor, die mit jeweils eigenen Forschungsvorhaben nach Konstanz eingeladen werden könnten. Eine Kommission begutachtet daraufhin die Kandidat/innen; Ablehnungen durch das Plenum des Clusters sind in dieser Phase nicht ausgeschlossen.

„Solche Ablehnungen können durchaus zu Lücken in der ursprünglichen Gruppendisposition führen, so dass wir umplanen oder mit gewissen thematischen Desiderata leben müssen. Daneben gibt es die üblichen Unwägbarkeiten des Wissenschaftsbetriebs, die immer wieder dazu führen, dass kurzfristig reagiert werden muss,“ sagt Koordinatorin Svenia Schneider-Wulf.

Scheitern?

Und wenn das fächerübergreifende Gespräch nicht so gelingt wie erhofft? Wenn zum Beispiel die Argumentationsstärke Einzelner die Diskussionen dominiert? Was, wenn nicht alle quer zu ihren Fachrichtungen denken wollen oder können?

„Scheitern gehört zum gemeinsamen Nachdenken dazu. Viele der Wissenschaftler, die zum ersten Mal zu uns kommen, sind die interdisziplinäre Auseinandersetzung und Öffnung in dieser Form nicht gewohnt. Das führt mitunter zu Irritationen – es kann aber auch produktiv sein,“ gibt Michael Neumann zu bedenken.

„Allein, dass diese Gruppe sich an diesem Ort zum Austausch über ein Problem zusammenfindet, das jeden Tag dringlicher zu werden scheint, ist ein wichtiger Erfolg. Darüber hinaus hoffen wir, dass zu den Resultaten des Aufenthalts in Konstanz auch zukünftige gemeinsame Forschungsaktivitäten der Beteiligten gehören werden,“ sagt Svenia Schneider-Wulf.

Für die kommenden Monate hat die Gruppe konkrete Pläne: regelmäßige Arbeitstreffen, eine längere Schreibphase, Vorträge externer Gäste, das Identifizieren thematischer Schnittmengen. Und im Sommersemester stoßen zwei weitere Fellows zur Gruppe dazu – der Schwerpunkt der Diskussionen wird dann auf den kulturellen und digitalen Dimensionen des Rahmenthemas „Öffentlichkeit und Repräsentation“ liegen.

Der Abend in der Bischofsvilla, ein lebhafter thematischer Auftakt zum diesjährigen Rahmenthema, gibt den beiden Koordinatoren Anlass zu der Hoffnung, „dass das interdisziplinäre Gespräch auch diesmal gelingen und tatsächliche neue wissenschaftliche Einsichten zutage fördern wird, die zum Verständnis unserer Gegenwart beitragen“.

jkr

Svenia Schneider-Wulf

Dr. Svenia Schneider-Wulf ist wissenschaftliche Koordinatorin des Kulturwissenschaftlichen Kollegs Konstanz.

Michael Neumann

Der Germanist Dr. Michael Neumann forscht am Exzellenzcluster über „Die Offenbarung des Himmels. Astronomisches Wissen und literarische Ordnung“.