Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Prekäre Ökonomien

Überschuldung, ausbleibende Zinszahlungen, verwahrloste Häuser

von Gabriela Signori

Publikation

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Gabriela Signori (Hg.): Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz, München: UVK 2014.

Die modernen Gesellschaftswissenschaften haben das Mittelalter kontrastiv zu ihrer eigenen Lebenswelt als eine Zeit verklärt, in der die Menschen in eine Vielzahl von Gemeinschaften eingebunden gewesen seien, die im Verlauf des Modernisierungsprozesses ihre Kohäsionskraft eingebüßt hätten. Den Kitt, der die mittelalterlichen Gemeinschaften zusammenhielt, glaubten die einen in der Religion, die anderen in der Genossenschaft zu erkennen. Narrative nahmen Gestalt an, die ihre überwältigende, bis heute anhaltende Suggestionskraft allein dem Faktum verdanken, dass sie sich von Kontrasten nähren. Das Geld, für viele Vertreter der modernen Gesellschaftswissenschaften der Motor der Zersetzung schlechthin, fand und findet in diesen Meistererzählungen bis heute keinen Platz. Beachtung schenkte die Wissenschaft allenfalls dem Wucherverbot oder dem Kaufmann, der als Prototyp des modernen Menschen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts besonders weit über seine Zeitgenossen hinausragte. Das aber sind eigentümliche Verkürzungen, die es dringend zu revidieren gilt.

Spätestens als sich die Städte als Kultur- und Wirtschaftskraft an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert zurückmeldeten, war das Geld, so knapp es auch immer gewesen sein mochte, allgegenwärtig und der Umgang mit ihm längst nicht mehr auf die exklusive Gruppe der Kaufleute begrenzt. Seine notorische Knappheit führte indessen dazu, dass sich in ganz Europa eine Ökonomie entfaltete, die auf vielfältigen Kreditformen basierte, von denen ausnahmslos alle Gebrauch machten. Schon im 13. Jahrhundert ist die Zahl der Schriftzeugnisse beeindruckend, deren oberstes Ziel es war, das Kreditwesen in geregeltere Bahnen zu lenken. Ihre Zahl vervielfachte sich in der Folgezeit, zugleich erhöhte sich die Diversität und Komplexität der Schriftzeugnisse. Die Vielzahl der Schriftzeugnisse, die das Kreditwesen stützten und lenkten, deutet darauf hin, dass das Vertrauen – der etymologische Kern des Kredits – (so es dies je tat) schon lange nicht mehr ausreichte, Kredite zu sichern. Einiges spricht sogar dafür, dass die moderne Verwaltung ursprünglich aus dem Bedürfnis heraus entstanden war, ein tragfähiges, schriftbasiertes System zu entwickeln, um das in Stadt und Land alles beherrschende Kreditwesen zu kontrollieren.

Kredit und Schulden scheinen auf Anhieb zwei Seiten ein und derselben Medaille zu sein. Das aber wäre eine unlautere Verkürzung, denn hinter dem Kredit oder den Schulden verbergen sich meist, wenngleich nicht ausschließlich, unterschiedliche Akteure. Daraus wiederum ergibt sich der Befund, dass die Geschichte des Kreditwesens nur wenig Berührungspunkte mit der Geschichte der Schulden aufweist, über die wir, was die mittelalterlichen Gesellschaften anbelangt, aus den eingangs skizzierten Gründen bis heute wenig Konkretes wissen. Mit dieser weitgehend ungeschriebenen Geschichte der Schulden befasst sich mein neues Forschungsprojekt, dem ich den Titel „Prekäre Ökonomien“ verliehen habe. Nicht von Wirtschaftskonjunkturen soll das Projekt handeln, sondern von schichtenübergreifenden Geschäftspraktiken, die fest in der Kultur der Zeit verankert sind. Dass es mir nicht allein um ökonomische Praktiken geht, sondern auch um Geschichtsbilder, sollten meine einleitenden Bemerkungen deutlich gemacht haben. Im Folgenden seien kurz die ersten Ergebnisse zusammengefasst, die Einblick in meine Vorgehensweise gewähren.

Unsichere Sicherheiten

Seit dem 13. Jahrhundert verbreitete sich in nahezu allen Gesellschaftsgruppen die Gewohnheit, mangels Bargeld für die verschiedensten Zwecke bald größere, bald kleiner Kredite aufzunehmen oder anschreiben zu lassen. Die Sicherung der Kredite stellte die Städte dies- und jenseits der Alpen zunächst vor kaum zu bewältigende Ordnungsprobleme. Denn es ging nicht allein darum, die Gläubiger zu schützen, sondern auch darum, den Stadtfrieden zu wahren. Mittels Verschriftlichung versuchten Handelsstädte wie Hamburg, Lübeck oder Riga die Geldgeschäfte früh in geregeltere Bahnen zu lenken. So füllten sich ihre Stadtbücher schon im 13. Jahrhundert mit Aberhunderten von Schuldbekenntnissen. Die unzähligen, in den Achtbüchern der Zeit verzeichneten Verbannungsurteile infolge Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit legen jedoch den Schluss nahe, dass diese Form der schriftlichen Selbstverpflichtung (also das Schuldbekenntnis) nicht ausreichte, die Gläubiger zu schützen. Eine Lösung war aber nicht in Sicht. Noch im 14. Jahrhundert blieb der Stadtverweis vielerorts das einzige Sanktionsmittel, säumige Schuldner zu disziplinieren. Doch nutzen immer mehr Betroffene die ursprünglich als Strafe konzipierte Verbannung als Möglichkeit, die Rückzahlung ihrer Ausstände einfach um ein Weiteres hinauszuschieben. Als Sanktionsmittel taugte der Stadtverweis also immer weniger. Er behauptete sich zwar noch in der Folgezeit, doch verbannten die Gerichte im 15. Jahrhundert nur noch diejenigen Schuldner, bei denen nichts zu pfänden war. Bei allen anderen griffen die Städte im Interesse der Gläubiger auf Sachgüter zurück, zunächst auf Immobilien, später immer häufiger auf die bewegliche Habe.

Schulden verwalten

Das neue Verfahren brachte neue Gerichtsbücher hervor. Immer mehr Städte versuchten im 15. Jahrhundert, den langen mehrstufigen Weg, der von der Kreditaufnahme über die Pfändung bis zur Zwangsvollstreckung führte, so umfassend wie nur möglich zu dokumentieren. Jede Stadt setzte jedoch eigene Akzente: So benutzte das Augsburger Stadtgericht noch im späten 15. Jahrhundert für die verschiedenen Vorgänge ein und dasselbe Gerichtsbuch, während Nördlingen schon sehr früh Pfandbücher (1390–1491) anlegte und diese gegen Ende des 15. Jahrhunderts um ein Pfandverkaufsbuch (1496–1512) erweiterte. Mit Abstand am weitesten fortgeschritten präsentiert sich die Ausdifferenzierung der Gerichtsbücher jedoch in Basel: Seit 1407 verzeichnete das Gericht von Amts wegen in Serie die Güter flüchtiger oder erblos verstorbener Personen, später auf Betreiben der Gläubiger immer häufiger auch den Besitz von Personen, die in die Insolvenz geraten waren. 1425 legte dasselbe Gericht für die Schuldbekenntnisse („Confessate“ bzw. „Vergichte“ genannt) eine neue Buchreihe an, ergänzt um die ‚Verbotsbücher’, in denen es bei drohender Insolvenz oder Dingflucht die Sacharreste registrierte. Verzeichnet wurden darin nicht nur die Namen der Gläubiger, sondern auch die Orte bzw. Personen, in deren Obhut sich die beschlagnahmten Güter befanden und die für deren Sicherheit einzustehen hatten. Hinzu kamen um die Mitte des Jahrhunderts Verrechnungsbücher (1452–1878), in denen die bei der Zwangsversteigerung erzielten Einnahmen eingetragen wurden. In den Leistungsbüchern schließlich wurden wie ehedem die Namen all derer festgehalten, die verbannt worden waren, weil es bei ihnen nichts zu pfänden gab.

Das Hauptproblem im Schuldenwesen mittelalterlicher Städte waren von Anfang an das riesige Ausmaß der Verschuldung sowie die in allen Gesellschaftsgruppen zu beobachtende ausnehmend schlechte Zahlungsmoral. Die ebenso gigantischen Dimensionen der Überlieferung – mehrere hundert Einträge pro Jahr und pro Buch – dürften schließlich auch der Grund sein, weshalb die Historiker bislang weder Vergichts- noch Verbotsbücher systematisch ausgewertet haben – die beiden Säulen meines Untersuchungsprojektes.

Prekäre Gestalten

Nimmt man das Basler Schuldenwesen als Modell, scheinen die südwestdeutschen Städte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen radikalen Wandel durchlebt zu haben. Von Gemeinwesen, die weitgehend durch Verwandtschaft, Nachbarschaft und Zunftzugehörigkeit – auch auf der Ebene der Kreditvergabe – zusammengehalten wurden, entwickelten sie sich schrittweise zu Sozialgebilden, in denen sich der Graben zwischen Arm und Reich bzw. zwischen Zentrum und Peripherie zusehends vergrößerte. Immer ausschließlicher füllten sich die Gerichtsbücher mit prekären Gestalten, die in die Schuldenfalle geraten waren, weil sie Schulden mit Schulden zu begleichen versuchten. Noch markanter sind die Veränderungen auf dem „Liegenschaftsmarkt“, wo die steigende Zahl der auf eine einzelne Immobilie aufgenommenen Hypotheken den Besitzern immer häufiger zum Verhängnis wurde. Das heißt, immer mehr kleine Leute waren nicht mehr in der Lage, die auf ihren Häusern liegenden Zinsen zu bezahlen und die Liegenschaften in Stand zu halten. Das Stadtbild änderte sich sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, nicht nur in der Peripherie, sondern auch im Zentrum.

Eine dieser vielen glücklosen Gestalten, die in den letzten drei Dezennien des 15. Jahrhunderts in die Insolvenz gerieten, war der Säckler Jos Lindenmeiger.

1470 noch hatte er hundert Gulden versteuert. Drei Jahre später war er insolvent. Seine Schulden hatten, wie der Eintrag im Verbotsbuch zeigt, das Ersparte vollständig aufgezehrt:

Lindenmeigers gůt
Hans Byrin hatt verbotten hinder Elß Lindenmeigerin irs mans gůt fúr xxxv lib.1 Totum. Ludwig Zscheckapúrlin dasselb gůt fúr v lib xiij ß. Totum. Hanns Holl von Bern fúr iiij g minus j ort. Hans Mûnczer fúr v lib iiij ß. Die Tannhúserin fúr [der Betrag fehlt]. Hans Stehelin fúr xviiij ß. Die Wytolffin fúr viij ß. Henßlin Blorer fúr j lib. Die Brúnlerin fúr ij lib v ß. Caspar Oeschenbach fúr j lib. Ennelin von Louffen fúr ij g. Elsin Sußherrin fúr xxx ß. Hannß Malterer xiiij ß. Hans zem Busch v lib ij ß. Crista von Busch vj lib. Die Altenbachin iij lib xvj ß. Steffa Stein iij lib. <Diebolt zer Stralen von wegen Thoma Volmers von Straßburg fúr xviij g.> Steffa Beham fúr xvi lib vff rechnung. Matyß von Metz fúr iij g vij ß iiij d hatt Joachym gwalt geben. Haßman, der wyßgerwer, xvj ß viij d. Jtem Thoma Folmer von Strasburg x g, aber sy vnd Tanhuserin xxx g. Hannß Muner, der jung, dz selb güt fúr xiiij g x ß. Ludwig Smitt hatt verbotten hinder Stroewlin, was von Elß Lindenmeigerin hinder in komen vnd Agneß Ospernellin zůgehoerig.2

Lindenmeigers Schulden bewegen sich mehrheitlich zwischen einem Pfund und zehn Gulden. Fast alle seine Gläubiger kamen aus demselben Kirchspiel (St. Leonhard), in dem auch er lebte.3 Nachbarschaftliches Nebeneinander scheint die Bereitschaft erhöht zu haben, ihm über die Jahre hinweg Geld zu leihen, bis zu dem Zeitpunkt, als dieselbe Nachbarschaft erstmals den Verdacht schöpfte, Lindenmeiger sei zahlungsunfähig – ein Verdacht, der, wie wir gesehen haben, durchaus berechtigt war. Kurz darauf starb Lindenmeiger. Zurück ließ er eine völlig mittellose Witwe, die bald ganz aus den Steuerbüchern der Stadt Basel verschwindet.


1 Die Formulierung „hinter“ besagt im Kontext der Verbote, wem die beschlagnahmten Güter in Obhut gegeben worden waren (Sacharrest). Frauen waren, wie Lindenmeigers Gläubigerliste zeigt, im Geldgeschäft genauso aktiv wie Männer.

2 Staatsarchiv Basel-Stadt, Gerichtsarchiv E = Frönungen und Verbote, Bd. 5, S. 249 (6. Mai 1473).

3 Steuerbuch St. Leonhard: Hans Birin, Hans Münzer, die Tannhuserin, Hans Stehelin, Hänsli Blorer, die Brünlerin, Hans Malterer, Christa von Busch, die Altenbach und Stefan Beham.

Gabriela Signori

Gabriela Signori ist Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Universität Konstanz. Im akademischen Jahr 2012/2013 forschte sie am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz über „Prekäre Ökonomien: Kredite, Hypotheken und Renten als Säulen der privaten Wirtschaftsführung (13.–15. Jh.)“.

Themen Thesen Texte

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 2/2013.

Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht).

Inhalt

Wissen und Nichtwissen der Investoren. Eine Skizze zu einer Economics of Persuasion
Birger P. Priddat

Prekäre Ökonomien: Überschuldung, ausbleibende Zinszahlungen, verwahrloste Häuser
Gabriela Signori

Atmosphärische Erzähltiefe. Zur kultursoziologischen Relevanz der Wiederaufwertung von urbanen Ruinen
Hanna Katharina Göbel

Der montierte Mensch
Bernd Stiegler

Das Muslimische Subjekt der Deutschen Islamkonferenz
Interview mit Levent Tezcan

Das Dorf nach seinem Ende
Markus Twellmann

Das Gedankenexperiment. Gespinst oder Wissenschaft
Julian Bauer

Weißer Fleck und dunkler Kontinent. Populäre Afrika-Bilder seit dem 19. Jahrhundert
Daniela Gretz

Flakhelfer – Porträt einer Generation
Aleida Assmann