Was wir von Bienen lernen können…
Warum interessieren Sie sich für soziale Insekten?
Niels Werber (NW): Für mich als Literaturwissenschaftler ist es sicherlich auf den ersten Blick ein merkwürdiges Thema. Und als ich vor einem Jahr in Konstanz am Kulturwissenschaftlichen Kolleg das Thema zum ersten Mal präsentiert habe, haben erst einmal alle gelacht: „Da beschäftigt sich jemand mit Ameisen, das ist ja irre.“ Ich habe begonnen, mich dafür zu interessieren bei der Arbeit an meinem letzten Projekt, in dem es um Geopolitik ging. Dabei habe ich festgestellt, dass viele Philosophen, Soziologen und Literaten, die politische Themen adressieren, auf einmal auf Ameisen oder Bienen zu sprechen kommen ‒ z.B. Carl Schmitt oder Ernst Jünger ‒ und dass offensichtlich soziale Insekten ein Modell sein können, an dem man bestimmte Probleme von Gesellschaft ‒ wie geopolitische ‒ durchspielen kann. Und da dachte ich, das klingt spannend, und als das geopolitische Projekt abgeschlossen war, habe ich angefangen, ein bisschen zu suchen, und fand, das ist so ein interessantes Feld, da könnte man ein eigenes Projekt draus machen. Und so ist es jetzt auch gekommen.
Giovanni Galizia (GG): Ich bin Neurobiologe und wir untersuchen, wie das Gehirn funktioniert, speziell, wie Düfte verarbeitet werden und wie sich Menschen und Tiere an Düfte erinnern können. Und wenn wir das mit sozialen Insekten machen, dann ist das einfach eine Tiergruppe, mit der wir das untersuchen können. Das Interessante an sozialen Insekten ist, dass sie durch ihre soziale Struktur, dadurch, dass sie Staaten bilden und in diesen Staaten auch koordiniert agieren müssen, ein sehr ausgeklügeltes Kommunikationswesen und Verständigungswesen innerhalb der Stöcke haben. Das bedeutet, dass sie im Vergleich zu vielen anderen Insekten besonders intelligent sind ‒ Intelligenz definiert als eine Möglichkeit, sich adaptiv auf ihre Umwelt einzustellen. Wenn man sich vorstellt, dass 50 000 Bienen in einem Stock miteinander kommunizieren und Düfte austauschen, dann ist das tatsächlich irre! 
Düfte sind deshalb so interessant, weil wir herausfinden wollen, wie verschiedene Düfte im Gehirn verarbeitet werden und wie die Bienen sich unter anderem mit Düften mitteilen, dass es da hinten gutes Futter gibt oder dass sie jetzt da vorne jemanden angreifen müssen, weil ein Bär auf sie zukommt. Da bietet sich das soziale Insekt als Versuchstier besonders an.
NW: Alle Begriffe, die Giovanni Galizia genannt hat, sind auch in der Soziologie beheimatet. Wir sprechen von Kommunikation, von sozialen Insekten, von Gemeinschaften, von Austausch. Das ist vielleicht auch das Spannende an diesen Fällen, dass es sozusagen ein Bereich ist, der einerseits relevant ist für die Entomologie, auf der anderen Seite aber auch offensichtlich was mit Gesellschaft, mit Soziologie, mit Kultur zu tun hat, weil es eben auch da um Kommunikation, um Gemeinschaftsbildung, um Interaktion, um Austausch, Gedächtnis usw. geht. Viele relevante Themen werden offensichtlich in beiden Disziplinen behandelt. Also die Schnittmenge sieht man auch schon an den Begriffen, die man verwendet.
Was können wir Menschen von sozialen Insekten lernen?
NW: In einem Seminar, das ich bei dem Konstanzer Entomologen Christoph Kleinadam besucht habe, ging es um „decision making“. Zunächst denkt man, das ist ein politischer Prozess und wird von Politologen oder Soziologen behandelt, aber darum geht es auch bei einer Arbeitsgruppe, die sich mit sozialen Insekten beschäftigt: Entscheidungsfindung bei Bienen oder Ameisen. Dabei ging es konkret um die Auswahl des besten Nestes, also der Frage: Wo ist das eigentlich? Der Forscher Tom Seeley sagt, dass die Bienen ein basisdemokratisches Abstimmungssystem haben. Er meint, dass wir viel daraus lernen können, wenn beispielsweise Bienen debattieren. Dann könnten nicht nur Biologen, sondern auch Soziologen davon lernen, was ein guter, effizienter und zielführender Abstimmungsprozess ist. Und er hält die Bienen für überlegene Demokraten und behauptet, wir könnten von diesen Prozeduren, die die Bienen entwickelt haben, profitieren. 
Unsere repräsentative Demokratie sei viel zu zäh und zu interessengesteuert. Das funktioniert nicht richtig, und von den Bienen können wir uns abschauen, wie „decision making“ wirklich gut funktioniert. Sein entscheidendes Argument ist eigentlich typisch biologisch, denn er sagt, in Millionen von Jahren hat die Evolution die Bienen dahin geführt, dass dieses Verhalten optimal ist, und deswegen kann man das auch kopieren. Während wir erst seit etwa 3000 Jahren mit der Demokratie experimentieren, haben die Bienen das schon hundertmillionen Jahre lang gemacht, und deswegen ist deren Protokoll auch optimal, weil die Völker mit schlechten Verfahren ausgestorben sind. Das ist sozusagen evolutionär geprüft und optimiert und deswegen sollte man davon lernen. 
GG: Das ist eine Haltung, die ich überhaupt nicht teile. Es ist schön, sich im Tierreich umzuschauen, verschiedene Tierarten zu sehen, wie sie leben. Wir können uns gerne auch ein Beispiel an ihnen nehmen, hier und da, aber das Prüfen, was für unsere Gesellschaft auch richtig und gut und nachahmbar wäre, das müssen wir schon selber machen und auf uns selber beziehen. Das heißt, ich würde es nicht so formulieren, dass wir sagen: Wir haben Bienen, das ist ein perfekter Staat und da holen wir uns unsere Rezepte ab. Ein Grund, warum ich das sage, ist folgender: Einer der markantesten Eigenschaften im Bienenstock ist, dass es eine Königin gibt und diese eine Königin legt alle Eier. Und alle anderen Bienen sind Weibchen und sind Halbschwestern oder Schwestern und formen damit diesen perfekten Staat. 
Jetzt könnte man denken: Gut, das ist eine Lösung, die in der Evolution entstanden ist über viele Millionen Jahre und deswegen stabil ist und damit die beste Lösung sein muss. Wenn wir aber nachschauen unter sozialen Insekten, und zwar nicht bei den Honigbienen allein, sondern bei den anderen Bienen, bei den Hummeln, bei den Wespen, bei den Ameisen, dann finden wir, dass es viele möglichen Lösungen gibt: Da gibt es Staaten, in denen nur die eine Königin die Eier legt, da gibt es Staaten, in denen mehrere Königinnen die Eier legen, da gibt es Staaten, in denen die Arbeiterinnen immer wieder heimlich Eier legen. Was wir also daraus lernen können, ist, dass es für eine funktionierende Gemeinschaft, die auch selbst organisiert und koordiniert gemeinschaftlich lebt, nicht ein perfektes Rezept gibt, sondern viele möglichen Rezepte.
Gibt es eine Art, die sozialer ist als andere? Sind z.B. Ameisen sozialer als Bienen?

NW: Das hängt immer davon ab, in welchem Kontext Sie  sich gerade dafür interessieren. Um jetzt mal ein paar drastische  Beispiele zu nehmen: Die Entomologie im Dritten Reich war gehalten, etwa  am Modell der Ameisen zu bestätigen, dass das beste und effizienteste  Modell, das die Natur hervorgebracht hat, ein totalitärer Kastenstaat  ist. Heute würde man das ganz anders sehen. Heute würde man sagen: Nein,  Ameisen und Bienen sind ein Vorbild für einen Schwarm, für ein  Kollektiv ohne Zentrum, für Gruppenverhalten ohne Hierarchien, ohne  zentrale Steuerung. Autoren wie Michael Hardt und Antonio Negri wiederum  nutzen in ihren Büchern über „Multitude“ oder „Empire“ Ameisen und  Bienen als Modell für ein postkommunistisches Kollektiv. Das ist  natürlich ein völlig anderes Modell von Gesellschaft, für das man sich  da interessiert. In der Antike würde man Autoren finden, die sagen, dass  die Monarchie die naturgemäße Art ist, wie Gesellschaft organisiert  ist. 
Man würde also quer durch die Kulturgeschichte hindurch immer  ein Interesse an sozialen Insekten finden, das sehr stabil ist, aber  immer wieder andere Modelle; es reicht vom Totalstaat bis zum  anarchistischen Kollektiv, von der Monarchie bis zur Republik. Da wären  die vielen Rezepte, von den Giovanni gesprochen hat.
GG: Wir als Biologen sind eigentlich daran  interessiert, objektiv herauszufinden, wie der Bienenstaat selber  funktioniert. Unser Ziel ist es nicht, den Bienenstaat oder die sozialen  Insekten als Spiegel für unsere Gesellschaft zu verwenden, sondern wir  wollen verstehen: Wie funktioniert Kommunikation im Bienenstaat, welche  Düfte werden verwendet, welche Bewegungen werden verwendet, welche  Selbstorganisationen in der Aufteilung einzelner Aufgaben im Bienensaat  entstehen?
Trotzdem würde auch mich interessieren, inwieweit unser  Blick als Wissenschaftler auf die sozialen Insekten durchaus geformt  wird durch das, was wir in unserer menschlichen Gesellschaft sehen. Ob  wir z.B. im Denken über das Leben der Bienen bzw. der sozialen Insekten  eine gewisse Richtung einschlagen, die uns vielleicht im Beurteilen,  aber ganz sicher im Stellen der Fragen, in anderen Richtungen  Scheuklappen aufsetzt. 
Was interessiert uns aktuell in der  biologischen Forschung? ‒ Da glaube ich, gibt es durchaus eine  Wechselwirkung in beide Richtungen; nicht nur die biologische  Erkenntnis, die dann als Bild genommen wird in der Literatur, sondern  durchaus auch die literarische, soziale und soziologische Aufarbeitung,  die dann wiederum beeinflusst, welches die spannenden Fragestellungen  sind, die in den biologischen Arbeitsgruppen an das Tier gestellt  werden.
Wie funktionieren die gemeinsame Forschung und die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen hier in Konstanz? Sind sie fruchtbar füreinander?
NW: Für mich war es ganz klar ein Glücksfall. Ich  habe ja ein Thema, das einerseits kulturwissenschaftlich und  wissenshistorisch ist und hat mit Entomologie erstmals nichts zu tun,  aber der Inhalt verlangt, dass ich mir die ganzen entomologischen  Theorien bzw. die Ameisenforschung anschaue, weil ich ja sonst gar  nichts Sinnvolles dazu sagen kann. Deshalb ist es außerordentlich gut  für mich, wenn ich mich mit mehreren Kollegen aus den Bereichen  austauschen kann und erfahre, dass ich etwas völlig falsch oder auch  richtig verstanden habe. Das ist genau das, was ich jetzt gebraucht  habe, nämlich die naturwissenschaftliche Expertise, die sich einerseits  auf meine Thesen einlässt, aber die mir auch sagt, wie deren Forschung  funktioniert, was der Stand ist und was ich lesen sollte.
Ich glaube  aber auch, dass sich die Biologen mit den kulturellen Grundlagen von  Integration beschäftigen, weil sie auch danach fragen, wie eine  Gemeinschaft entsteht, was das ist, welche genetischen und welche  Umweltfaktoren es gibt, welche Art von Verhalten dazu führt, dass eine  Gemeinschaft entsteht. Das ist ja gerade eine Frage, die den  Exzellenzcluster umtreibt. Ich glaube schon, dass es sehr spannend ist,  sich da auszutauschen, ohne in kurzschlüssige Analogien zu verfallen,  die wir ja gerade auch abgelehnt haben. Es gibt Forschungsfragen und  -probleme, die beide Disziplinen haben, deshalb finde ich meine Arbeit  sehr fruchtbar.
GG: Ich glaube, dass gute Forschung am Ende zentral  immer auch disziplinäre Forschung ist. Bei allem Hipe und aller  Schönheit des interdisziplinären Diskurses sind die zentralen Fragen  immer disziplinäre Fragen, weil man bei zentralen Fragen wirklich tief  einsteigen will und da auch das Expertenwissen braucht. Wenn man aber  ausschließlich das macht, dann verliert man sich. Dann hat man den  Kontakt zum Rest der Welt und letztlich auch die Bedeutung von dem, was  man macht, verloren. Und da haben wir in Konstanz zum einen schon durch  die Architektur der Universität, durch die kurzen Wege und durch die  sehr nahe beieinander liegenden Fachbereiche, aber jetzt auch durch den  Exzellenzcluster und das Zukunftskolleg, sehr viel mehr Möglichkeiten,  uns ständig über den Weg zu laufen. 
Und bei diesem  interdisziplinären Diskurs entstehen meiner Meinung nach zwei Stufen:  zum einen die passive Interdisziplinarität, also die Fähigkeit, so zu  reden, dass jemand aus einem anderen Fachbereich einen versteht, sowie  die Fähigkeit, zuzuhören und jemanden aus anderen  Wissenschaftsdisziplinen zu verstehen. Diese Fähigkeit kommt aber nicht  einfach über Nacht, sondern dadurch, dass man immer wieder miteinander  redet und sich austauscht und immer wieder neu versucht zu verstehen,  warum bestimmte Fragen gestellt werden. Dieses Verständnis füreinander  ist die erste Stufe und glaube ich die wichtigste Stufe der  Interdisziplinarität. Wenn man die hat, dann entstehen immer wieder  einzelne Brücken, bei denen man zusammenarbeiten und ein gemeinsames  Projekt verwirklichen möchte. Zudem entsteht ein Verständnis dafür, wie  der Rest der Welt die eigene Disziplin sieht und wo man sich gerade  bewegt. Durch den Austausch zwischen Cluster, Zukunftskolleg und  Graduiertenschule kommt dieses Verständnis zustande und das finde ich  unglaublich faszinierend.
Publikationen
Weiterführende Informationen
Niels Werber zu Gast bei Scobel (3sat)
Schwärme – Über kollektive Intelligenz. Sendung vom 1. September 2011


