Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Vom Niemand zum Jemand

Was ist ein Auftritt?

von Juliane Vogel

Publikation

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Juliane Vogel, Christopher Wild (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin: Theater der Zeit 2014 (Recherchen, 115).

Der Sammelband ist eines der Ergebnisse des Forschungsprojektes „Kulturelle Poetologien des Auftretens“ von Juliane Vogel und Christopher Wild.

„Es wurde so hell wie nie zuvor, als er auftrat, und dochtlichtfahl, sobald er abging.“ Was hat es mit diesem Satz auf sich, den der Schauspieler Fritz Kortner in seinen 1959 erschienenen Erinnerungen Aller Tage Abend schrieb? Und was bedeutet die Regieanweisung „Enter Cesar“ oder „Enter Ghost“? Welche Fragen stellen sich, wenn Figuren in einem „Märchenkahn“ oder „paradiesischem Gefährt“ erscheinen, und welche, wenn sie „verstohlen und gehetzt“ auftreten? Wie wirkt ein Pelzmantel oder eine Posaune beim Auftritt mit und was kann dabei schiefgehen? Die Frage, was einen Auftritt kennzeichnet und welche sozialen und ästhetischen Funktionen ihm zugeschrieben werden, stand im Mittelpunkt des Projekts „Kulturelle Poetologien des Auftretens“.

Dabei ist den Bedeutungen einer so selbstverständlichen Operation, wie es der Auftritt ist, nur schwer beizukommen. Zu vielfältig sind seine Ausprägungen, als dass er sich aus einer einzigen Perspektive erschließen würde. Der Auslegungsspielraum dessen, was es heißt, einen Auftritt zu haben, ist unabsehbar. Von der Castingshow bis zum akademischen Hearing, von der Szene der Diva bis zum diskreten, aber nicht minder ambitionierten Erscheinen in der zweiten Reihe, vom Politiker­ auftritt bis zum Helikopterauftritt eines James-Bond-Ganoven lässt sich von Auftritten sprechen; denn hier werden Akteure in markanten und aufmerksamkeitserregenden Formen sichtbar.

Auftritte besitzen dann Ereignischarakter, wenn sich durch die Ankunft einer Person auf der Szene eine gegebene Situation merklich verändert. Durch den Schritt oder die Bewegung auf die Bühne ändert sich der Sinn einer gegebenen Situation; dann ist nichts mehr so, wie es vorher war. Erleuchtet das Licht einer neuen Person den „dochtlichtfahlen Raum“, wird ein zeitlicher Zusammenhang, eine Situation oder eine Routine unterbrochen. Das ist besonders dann der Fall, wenn Mächtige auftreten: Götter oder Könige, die durch ihr Erscheinen Licht ins Dunkel bringen, Ordnung ins Chaos und Glanz in die Prosa der Wirklichkeit. Oder auch umgekehrt: Gelungene Auftritte – das lässt sich in vielen Auftrittskulturen zeigen – werden deshalb mit Sonnenaufgängen oder wenigstens dem Aufgang eines Sterns verglichen und als solche inszeniert. Sie betonen die Erneuerungskraft, die dem idealen Auftritt innewohnt, wenn er in einer stagnierenden Situation neue Impulse gibt oder wenn sich mit dem Auftritt einer erwarteten oder unverhofften Person eine unentschiedene Lage entscheidet. Wegen ihrer Durchschlagkraft waren solche besonders eindrucksvollen, maximalen Formen des Auftretens für die Forschungen des Projekts besonders aufschlussreich: Die Triumphauftritte römischer Feldherrn und die Royal Entries der höfischen Kultur, deren Formen bis in die Gegenwart weiterwirken, gehören ebenso dazu wie Götterauftritte in Drama, Oper und Theater, die wir in Gestalt des Deus ex machina kennen, der unvermutet auftauchend eine überraschende Wendung bringt. Das Medienphänomen des Starauftritts ist bis heute diesen Auftrittsformen verpflichtet.

Effektvolle Auftritte wie diese bedürfen jedoch der Vorbereitung. Aus dem Nichts heraus wird sich der gewünschte Ereignischarakter nicht einstellen. So war es ein weiterer wichtiger Aspekt der Projektarbeit, die rhetorischen, formalen, technischen und sozialen Voraussetzungen des gelungenen In-Erscheinung-Tretens zu beschreiben und nach den Mitteln zu fragen, die ihm die Aufmerksamkeit der Anwesenden sichern. Neben den Auftritten selbst ging es auch um die „methods of preparation“, wie sich der englische Romancier Henry Fielding ausdrückte, der genau wusste, dass man auch als König nicht allein, nicht aus eigener Kraft oder nach eigenem Gutdünken die Bühne der Gesellschaft oder des Theaters betreten konnte. Von seiner Seite her bedurfte es eines Zeremoniells, eines Rahmens und eines Apparates – eines Gefolges, das ihm vorausging, eines Wagens, der ihn erhöhte und vergrößerte, einer glänzenden Kleidung, einer wirkungsvollen Beleuchtung – zumindest aber des aufrechten und souveränen Gangs, der dem Auftretenden eine Bedeutung und einen Glanz verlieh, den er von sich aus nicht besaß. Oder eines Zeremonienmeisters, der ihm voranschritt.

Diese Vorbereitungen dienten und dienen dazu, den Körper des Auftretenden über seine natürlichen Ausmaße zu erweitern, zu vergrößern und auf Seiten der Anwesenden Überwältigungs- oder wenigstens Eindruckseffekte zu erzielen. Sie verleihen dem Ankömmling Evidenz – d.h. lebendige An­­schaulichkeit – und verschaffen ihm Anerkennung. Sie zeigen aber auch die Abhängigkeit des Ankommenden von Auftrittsregelungen und Protokollen, denen er sich nicht entziehen kann, wenn er gewürdigt und aufgenommen werden will. Auftritte adressieren stets eine Jury, sie erfolgen unter den Blicken anderer, denen man sich im wirkungsvoll gestalteten Moment des Erscheinens bemerkbar macht. In irgendeiner Weise muss die Gegenwart des Auftretenden wahrgenommen, anerkannt und quittiert werden.

Der Erfolg solcher Auftritte ist jedoch alles andere als gesichert. Sie sind störungsanfällig im Großen wie im Kleinen – sei es, dass die Stimme versagt, der Wagen entgleist, die Aufmerksamkeit fehlt oder die Beleuchtung ausfällt. Im Zusammenhang solcher Störfälle haben wir von Unterbietungen oder auch von Auftrittskrisen gesprochen, wie sie beispielsweise im Auftritt von Betrunkenen im Drama zu beobachten sind. Man denke hier an die Pförtnerszene in Shakespeares Macbeth oder an die Auftritte von Fliehenden, Erschöpften oder Gehetzten, die aufgrund ihrer körperlichen Schwächung zu keinen souveränen Auftritten fähig sind und damit die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass der Superlativ des maximalen Glanzauftritts in der Realität des gesellschaftlichen Verkehrs nicht zu erreichen ist. Die dramatischen Figuren Heinrich von Kleists betreten immer nur als Gestrauchelte oder längst Gefallene die Bühne. Aber schon die Texte der antiken Tragödie deuten solche Auftrittskrisen an. König Ödipus heißt nicht umsonst „Schwellfuß“, wie Christopher Wild festgestellt hat; mit durchstochenen und geschwollenen Füßen lässt sich kein souveräner Auftritt durchführen. In der ersten uns überlieferten antiken Tragödie Die Perser tritt der von den Griechen besiegte König Xerxes in Lumpen auf.

Diese Beispiele machen deutlich, dass Auftritte symbolische Formen sind, deren Versagen auch ein Versagen der politischen oder gesellschaftlichen Ordnung anzeigt, in der sie stattfinden. Der Übergang vom Niemand zum Jemand gelingt nicht immer und ist auch nicht immer angestrebt. So wird das moderne Theater immer wieder durch anonyme Auftrittsformen beherrscht – durch das Kommen und Gehen unbestimmter Akteure, das die Aufmerksamkeitsschwelle in der Regel nicht überschreitet.

Nähert man sich der Frage nach dem Auftritt aus der Perspektive der karikierenden Überzeichnung und will man sich die Wirksamkeit dieser Regelungen auch in der modernen Mediengesellschaft verdeutlichen, so ist ein Blick auf das Sendeformat der Castingshow aufschlussreich. Die Abläufe, die einen Auftrittsvorgang prägen, lassen sich an einem Sendeformat ablesen, das durchgängig auf einer Abfolge von Auftritten aufbaut und einen idealen Bogen zwischen Auftrittsvorbereitung, Auftrittsvollzug und Auftrittsbewertung schlägt.

Mit guten Gründen lässt sich von einer Schule des Auftretens sprechen. Denn hier wird in Rückblenden der mühevolle Weg gezeigt, der vom natürlichen Körper des Kandidaten zur Kunstfigur führt, der die Erlernung des richtigen Gehens, Kleidens und selbstbewussten Sprechens erfordert und alle gesellschaftlichen Erwartungen an eine auftrittsfähige Person vor laufender Kamera reproduziert. Außerdem zeigt sich, dass Auftritte, wollen sie wahrgenommen werden, jeweils eines bestimmten Settings bedürfen. Das können Catwalks oder Tribünen, Lichteffekte und Raumformate sein, in der Regel ist jedoch die Stelle markiert, an der sie stattfinden. Vor allem aber wird die Aufmerksamkeit ganz auf die Tätigkeit der Jury gelenkt, die den Auftritt eines Bewerbers zu beurteilen, zu würdigen oder noch besser zu vernichten hat. Ihre Kommentare können dem Wunsch, in der Show wie eine Sonne aufzugehen, ein oftmals grausames Ende bereiten.

In vielfältigen Perspektiven hat sich die Projektarbeit mit dem Artefakt des Auftritts beschäftigt. In ihrem Mittelpunkt standen dabei Auftrittsinszenierungen des Theaters und des Dramas sowie die sozialen Institutionen, die mit diesen in Verbindung stehen und sich in ihnen spiegeln: die Politik, die Universität oder die Medien. Ein zentrales Ergebnis dabei ist, dass Auftritte bis in die moderne Mediengesellschaft hinein zentrale Strukturelemente gesellschaftlichen Lebens und seiner medialen Selbstinszenierung darstellen, dass diese aber nur funktionieren, wenn sie bestimmten formalen und rhetorischen Mustern und Anordnungen folgen, über die sich auch ein mächtiger Protagonist nicht hinwegsetzen kann.

Juliane Vogel

Juliane Vogel ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz und Mitglied im Vorstand des Exzellenzclusters. Gemeinsam mit Christopher Wild von der University of Chicago leitete sie das Cluster-Projekt „Kulturelle Poetologien des Auftretens“.

Themen Thesen Texte

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 3/2014.

Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht) oder als

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Inhalt

Vom Niemand zum Jemand
Was ist ein Auftritt?
Juliane Vogel

Die Religion der Gesellschaft im Umbruch
Das europäische Christentum 1750-1850
Rudolf Schlögl

El Familiar
Bestie, Bürokrat, Diener der Inquisition
Kirsten Mahlke

Wie viel Erfolg braucht man, um (noch) glücklich zu sein?
Interview mit
Stephanie Kleiner und Robert Suter

Ameisen- und Menschengesellschaften
Niels Werber

Die Weltkarte und das Gänsespiel
Ein Projekt zu Jules Vernes literarischen Reisen
Jörg Dünne

Einheit, Sicherheit und Nicht-Gleichgültigkeit
Zwölf Jahre Afrikanische Union
Martin Welz

Botswana: Ehe als Unternehmung
Rijk van Dijk

Taten und Worte
Zur Entstehung des Terrorismus im 19. Jahrhundert in Europa, Russland und den USA
Carola Dietze

Aus dem Wörterbuch der Migration
A wie … Assimilation
Valentin Rauer

T wie … Transit
Deniz Göktürk