Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

El Familiar

Bestie, Bürokrat, Diener der Inquisition

von Kirsten Mahlkes

Arbeiter in einer Zuckerrohrplantage.
Arbeiter in einer Zuckerrohrplantage. Foto: Cícero R. C. Omena/Flickr.com. Einige Rechte vorbehalten.

In den Kellergewölben der Zuckerfabriken haust ein großer, bösartiger Hund, der Ketten hinter sich herzieht. Das Untier namens El Familiar hat schwarzes Fell, scharfe Krallen und leuchtend rote Augen. Ihm werden regelmäßig Arbeiter zum Fraß vorgeworfen, denn er ist Statthalter des Teufels, mit dem der Eigentümer der Zuckerfabrik einen Pakt geschlossen hat. Im Gegenzug verspricht dieser Pakt dem Zuckerunternehmer immensen Reichtum. Besonders maßlos ist der Hunger des Familiar während der Erntezeit, wenn die Arbeitsbedingungen besonders hart und sehr viele Wanderarbeiter vor Ort sind. Der betroffene Schnitter wird unter einem Vorwand in den Keller gerufen, doch von dort kehrt selten jemand zu­rück. Oft heißt es dann, das Opfer habe zu den Unfolgsamen gehört, die Rechte eingefordert oder einfach dem Vorarbeiter widersprochen hätten. Seine Kollegen und Angehörigen wissen dann, dass ihn „der Familiar gefressen“ hat und die Suche nach den Resten des Körpers zwecklos ist, denn dieser frisst die Männer mit Haut und Haar.

Um diesen Erzählkern kreisen die Geschichten vom Familiar, die man sich in den Zuckerplantagen der subtropischen Regionen im Nordwesten Argentiniens bis heute erzählt. Der Mythos erzählt in einigen Varianten von gewissen regelhaften Abläufen, von Personal-Listen, von Dienstplänen, Verträgen und Büroräumen. Der Familiar lässt sich also nicht einfach auf eine wilde Bestie mit anthropophagischen Gelüsten reduzieren, die willkürlich zuschlägt. Er verkörpert ein groteskes Zwitterwesen aus verwalterischer Pedanterie und Blutrünstigkeit, das auf unheimliche Weise für Ordnung und satte Firmengewinne sorgt. In den vielen verschiedenen Varianten des Mythos vom Familiar wird die sozioökonomische Konstellation der Zuckerkultur nicht als Zivilisationsprojekt erzählt, sondern als ein Komplex aus paralegalen Bündnissen, gewalttätigen Praktiken und extremer Repression. Gleichzeitig erzählt er vom unwahrscheinlichen Reichtum, der ohne eigenes Zutun einer kleinen Gruppe von Profiteuren zugute kommt. Die Maskerade des Bürokraten und seine fast magischen Praktiken hinter verschlossenen Amtstüren spielen in diesem Erzählgeflecht eine herausragende Rolle.

Ausbeutung und Überfluss

Die Zuckerpflanzungen im Nordwesten Argentiniens entwickelten sich neben den Rinderweiden der Pampa Ende des 19. Jahrhunderts zu den zinsträchtigsten Wirtschaftszweigen des Landes. Ein paar hundert Familien gelangten in den Besitz der größten Landwirtschaftsflächen. Die Subsistenzwirtschaft in den fruchtbaren Tälern wurde von der Agrarindustrie verdrängt, die ehemaligen Kleinbauern gingen in einem Agrarindustrieproletariat auf. Zigtausende für Ernte und Verarbeitung benötigte Arbeiter wurden aus der indigenen und kreolischen Bevölkerung der umliegenden Provinzen oder angrenzenden Länder rekrutiert. Ihre Löhne wurden niedrig gehalten, zum Teil in Form von Gutscheinen der fabrikeigenen Läden, in hochprozentigem Alkohol oder schlicht in Zuckerrohr ausgezahlt. 12- bis 16-Stundentage ohne Ruhetage waren die Regel. Harte Arbeit, Hunger und Krankheiten prägten die Lebensbedingungen; Kritik oder Aufstände wurden überaus grausam im Keim erstickt. Am anderen Ende der sozialen Skala liebte man Luxus und stellte ihn offen zur Schau. Eine der zahlreichen Anekdoten erzählt, dass Clodomiro Hileret, ein Zuckerbaron der industriellen Gründergeneration, die Wege seiner Hofeinfahrt mit Champagne Pernod begießen ließ, um das Aufwirbeln von Staub zu verhindern.

Der Familiar könnte ein Mythos sein, der diese reale Struktur von Ausbeutung und Verbrechen anklagt, erzählt und tradiert und die damit verbundenen Gefühle extremer Angst vor der brutalen Willkür narrativ bindet. Und der zugleich eine Kommunikation über Generationen und Regionen hinweg herstellt, wenn nicht sogar eine flüchtige Gemeinschaft derer, die wissen, welche Arbeitsbedingungen und sozialen Erfahrungen genau gemeint sind, wenn man vom Familiar spricht.

Der Pakt

Der Teufelspakt besiegelt ein dienstrechtliches Verhältnis, das der Zuckerunternehmer mit dem Teufel eingeht und sich damit aus den sittlich und gesetzlich anerkannten Machtbereichen löst. Mit dem Blut der beiden Vertragspartner unterschrieben, regelt der Pakt die gegenseitigen Verpflichtungen: Der Teufel schuldet dem Unternehmer Reichtümer und ständige Bewachung und Vermehrung derselben, während der Unternehmer seine Seele verkauft und regelmäßig eine gewisse Zahl von Körpern seiner Arbeiter opfert. Im Falle der Nichterfüllung droht dem Zuckerbaron selbst dieses Schicksal oder zumindest der Ruin seines Unternehmens.

Der wesentliche Unterschied zwischen El Familiar und den in Europa vor Jahrhunderten verbreiteten und früh nach Amerika exportierten Teufelspaktmythen scheint zu sein, dass erstens dem Teufel nicht nur die Seele, sondern auch das Fleisch geschuldet wird. Zweitens wird eine unbegrenzte Zahl unbeteiligter Dritter direkt und total – mit dem eigenen Leben – in die Verpflichtungen einbezogen. Also verschiebt sich der Geltungsbereich der Verpflichtungen eines Vertrags zwischen zwei Personen vom Nutznießer auf ein großes Kollektiv. In dieser Logik werden die Körper der Arbeiter als Ausdehnung respektive als Anzahlung des Unternehmerkörpers gesehen, was der quasi-feudalen Struktur der Arbeitsverhältnisse auf den Zuckerplantagen entspricht.

Der vielseitige Administrator

Die Figur des Familiar ist eine Gestalt, die ohne erkennbare eigene Ambitionen handelt und nur Aufträge und Anweisungen ausführt – ein Funktionär des Teufels. Er repräsentiert eine vergleichsweise niedrige Stufe in der Hierarchie und nähert sich mimetisch den Unterhändlern der Macht an, die in der Zuckerfabrik in großer Zahl vertreten waren: capataces (Vorarbeiter), Aufseher, Rundgänger, Kontrolleure, Informanten.

Welchen Tätigkeiten geht der Familiar nach, wenn er gerade keine Arbeiter verschlingt? Man hört über ihn, dass er nicht nur als Hund, sondern bisweilen in Gestalt eines sehr respektablen und seriösen Mannes auftritt. Er hat ein Büro, führt Register bei Vertragsabschluss und schwarze Listen der zum ,Fraß‘ Vorgesehenen, er beobachtet und kontrolliert und nistet sich inmitten des Unternehmens ein, ohne selbst gesehen zu werden. Neben der Personalverwaltung und -kontrolle muss er als eine Art Geschäftsführer für die Ver­­­mehrung und Verwaltung des Wohlstandes sorgen, das heißt, er ist Buchhalter über die schwarzen Kassen und, als ob das nicht genügte, ist er Hausmeister, der Alteisen und ausrangierte Möbel aufbewahrt und inventarisiert und nebenbei untreue Ehemänner zu ihren Frauen nach Hause schickt, die aus diesem Grund ein nicht uninteressiertes Verhältnis zum Familiar haben. Er leitet sittenpolizeiliche Informationen weiter, denunziert Arbeiter wegen politischer Unangepasstheit und exekutiert sie schließlich in einem unbestimmten, nicht durchschaubaren Verfahren entsprechend selbst, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Er repräsentiert mithin eine Fülle von sozial kompromittierenden Ämtern, die in dieser Konstellation allerdings eine honorige Geschichte haben. Diese interessanten Zeugnisse lassen mit einigem Recht darauf schließen, dass es sich beim Familiar um einen Funktionär der niederen Verwaltungsebene handelt.

Eine Namensspur

Familiar ist kein Eigenname. Das Rätsel um seinen Namen, der nur eine Beziehungskategorie, kein Individuum benennt, wurde in der bisherigen Forschung mit einem Verweis auf die Verwandtschaft mit dem Teufel immer ziemlich kurz abgehandelt. Familiar heißt der Verwandte oder der Vertraute. Er gehört qua Vertrag zum Familienunternehmen und ist damit ein loyaler Interessensvertreter der Zuckerwirtschaft. Die Bezeichnung El Familiar für den Vollstrecker des Teufelspaktes führt auf eine Spur, die wenig mit indigenen oder volkstümlichen Traditionen, umso mehr aber mit der kolonialen Inquisition und ihren späten Degenerationssymptomen zu tun zu haben scheint. Bis 1838 war sie in den nordwestargentinischen Regionen aktiv und dürfte im kollektiven Gedächtnis ganzer Bevölkerungsgruppen noch lebendig gewesen sein.

In der Inquisitions-Hierarchie gibt es relativ weit unten angesiedelt eine Figur, die derartige allumfassende Exekutivfunktionen, wie über den Familiar beschrieben, jahrhundertelang ausgeübt hat und sogar denselben Namen trägt: Es sind die Familiares del Santo Oficio, der spanischen Inquisition. Sie waren Laien, bezogen keine festen Gehälter, erhielten dafür aber hohe Privilegien wie das Recht, Waffen zu tragen, der weltlichen Gerichtsbarkeit entzogen zu sein sowie einen Ausweis ihrer Reinblütigkeit und Steuerbefreiung. Sie standen stets zu Diensten des Inquisitors bereit und befassten sich den Rest der Zeit mit der großzügigen Interpretation ihrer Dienstvorschriften.

Die Inquisitionsforschung hat über diesen Informantenzweig viel Unterhaltsames und Erschreckendes zutage gefördert, unter anderem, das schreibt Charles Lea über eine Vorschrift aus dem 16. Jahrhundert, dass die Familiares gehalten waren, dem Gericht „von allem Mitteilung [zu machen], was in ihrem Bereich vorginge – woraus man erkennen kann, wie umfangreich der Spionendienst war“ (Lea 1912: 530). Sie waren der Schrecken ihrer Nachbarn, drangen in Privathäuser ein, schnüffelten in Dokumenten, konfiszierten Mobiliar, liebten Gerüchte, vor allem in sittlichen Angelegenheiten wie Ehe­bruch, Sodomie oder häretischen Ansichten, verhafteten Leute und richteten sie bisweilen auf der Stelle. Angesichts der Diskrepanz zwischen ihrer limitierten offiziellen Funktion und der tatsächlichen Auslegung ihres Ehrenamtes als Familiares der Inquisition lässt sich erahnen, welche Auswüchse administrative Vorschriften und Amtswege annehmen können, wenn der Chef und das Gesetz denkbar weit entfernt sind, die Privilegien aber umso näher.

Angenommen, der Familiar del Ingenio, also der Zuckerfabrik, entstammt der Genealogie dieser schwer kontrollierbaren Verwalterklasse der Inquisition. Er würde damit auf ein bürokratisches Erbe hinweisen, das Praktiken zur Disziplinierung der Untertanen der katholischen Könige in Praktiken zur Transformation von Kleinbauern in Industriearbeiter überführt. Das Imaginarium des Schreckens im Mythos vom Familiar der Zuckerfabriken enthält inklusive der Privilegien von Steuerbefreiung und der Gerichtsbarkeit, alle Zugeständnisse, Selbstzuschreibungen und Amtsmissbräuche, für die der Familiar der Inquisition bereits berüchtigt gewesen war und die später nahtlos auf die Klein-Caudillos, Hilfssheriffs, Teilzeitadministratoren der Dörfer und Zuckerplantagen übergingen. Der Familiar, so heißt es in einem Zeugenbericht, mache – und hier lassen sich spätere Aufgabenbereiche in paramilitärischen Einsatztruppen erahnen – in den frühen Morgenstunden seine Kontrollgänge, um die zu erwischen, die Alkohol trinken, spielen oder ihre Frauen betrügen. Zur Disziplinierung von Arbeitern lässt sich keine bessere Funktion als die des schlecht bezahlten, dafür aber ungleich stärker privilegierten niederen Chargen und Hilfsbürokraten des Teufels denken. Obwohl sie in gewisser Weise staatlichen Disziplinierungsidealen ähneln, stehen sie doch im Dienste einer Eigengesetzlichkeit, die nicht der Realisierung bürgerlicher Freiheit in der jungen Republik, sondern der wirtschaftlichen Größe der Agrarunternehmer diente, die sich als Verkörperungen der jungen Republik ausgaben.

Die Erzähler des Mythos vom Familiar, die ihre Versionen der Geschichte 1921 zu Protokoll gaben, haben die sozialen Mechanismen bis in die kleinsten Details der Tricks und Täuschungen der Zuckeradministration ausgeleuchtet. Statt von vielen einzelnen Fällen erzählen sie von einer funktionalen Integration von Terror, Gewalt, Repression und Amtsmissbräuchen in der kartellwirtschaftlich organisierten und paralegal agierenden Zuckerindustrie.

Der Mythos vom Familiar wurde auch von jenen, die sich darin auf Teufelsseite repräsentiert sahen, offenbar nicht dem fiktionalen Genre zugeordnet, sondern eher dem Betriebsgeheimnis, was sich daran erkennen lässt, dass die Verwandten der Zuckerunternehmer bis heute dafür gesorgt haben, dass die Folklore ihrer Region wie ein Giftschrank gehütet wird.

Kirsten Mahlke

Die Romanistin Kirsten Mahlke hat die vom Exzellenzcluster eingerichtete Professur für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden an der Universität Konstanz inne.
Das soziale Imaginäre marginaler Ökonomien: Geschichte vom Teufelspakt in nordwestargentinischen Zuckerplantagen” war ihr Forschungsprojekt am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz (2013/2014).

Themen Thesen Texte

Cover

Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 3/2014.

Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht) oder als

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Inhalt

Vom Niemand zum Jemand
Was ist ein Auftritt?
Juliane Vogel

Die Religion der Gesellschaft im Umbruch
Das europäische Christentum 1750-1850
Rudolf Schlögl

El Familiar
Bestie, Bürokrat, Diener der Inquisition
Kirsten Mahlke

Wie viel Erfolg braucht man, um (noch) glücklich zu sein?
Interview mit
Stephanie Kleiner und Robert Suter

Ameisen- und Menschengesellschaften
Niels Werber

Die Weltkarte und das Gänsespiel
Ein Projekt zu Jules Vernes literarischen Reisen
Jörg Dünne

Einheit, Sicherheit und Nicht-Gleichgültigkeit
Zwölf Jahre Afrikanische Union
Martin Welz

Botswana: Ehe als Unternehmung
Rijk van Dijk

Taten und Worte
Zur Entstehung des Terrorismus im 19. Jahrhundert in Europa, Russland und den USA
Carola Dietze

Aus dem Wörterbuch der Migration
A wie … Assimilation
Valentin Rauer

T wie … Transit
Deniz Göktürk